Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
Vom Netzwerk:
silberweißes Haar und, im Schatten, eine seltsame Krümmung, einen muskulösen Rücken ... Alfonso Palin war ein Zentaur, halb Mensch, halb Pferd. Zwei Sagengestalten ...

 
    74
    Mit seinen Palmen und seinen frischgestrichenen Gebäuden glich Formosa einem Seebad. Die Stadt lag an dem grauen, schlammigen Fluss Paraguay, der sich bis zum Horizont erstreckte. In der Ferne trieben einige Büsche in seinen schweren Fluten.
    Tucumán lag im Zentrum von nirgendwo. Formosa am Ende von nirgendwo.
    Der Fahrer setzte die beiden vor dem Hotel Internacional ab, dem einzigen, das für die Unterbringung von Ausländern eingerichtet war. Eine angenehme Überraschung war die Temperatur. Im Juni schwächte sich die Gluthitze im Noreste ab – auf erträgliche zwanzig bis dreißig Grad.
    Wortlos stellte der Mestize ihr Gepäck in der Lobby des Hotels ab und verschwand. Er würde umgehend die zwanzigstündige Rückfahrt antreten. Ohne sich auch nur die geringste Pause zu gönnen. Die Fähigkeit, solche gewaltigen Entfernungen in einem Stück zurückzulegen, ist den Argentiniern gleichsam in die Wiege gelegt. Der weite Raum, die Einsamkeit, die sich dehnende Zeit sind ihnen in Fleisch und Blut übergegangen.
    Jeanne nahm zwei Zimmer und bezahlte im Voraus. Die Zimmer waren ein Ebenbild der Stadt: geräumig, tropisch, trocken. Jeanne schaltete die Klimaanlage an, zog die Vorhänge zurück und betrachtete den Fluss, der unter ihren Fenstern dahinströmte. Bei klarem Wetter sah man von hier aus bestimmt bis ans andere Ufer, wo Paraguay lag, das Land, dessen Name bedeutet: »Wasser, das zum Wasser geht«. Aber an diesem Tag wirkte dieses Land im diesigen Mittagslicht so unwirklich wie ein unerreichbares Atlantis.
    Jeanne hatte Féraud gebeten, sie wenigstens eine Stunde in Ruhe zu lassen. Eine angemessene Frist, um ein neues Auto und einen neuen Chauffeur aufzutreiben. Sie rief bei der Rezeption an. Gab es in der Stadt ein Fremdenverkehrsamt? Nein. Und das Angebot an Reisebüros beschränkte sich auf einen Mann, der nur einen Vornamen hatte: Beto. Jeanne wählte seine Nummer. Der Mann hob beim zweiten Läuten ab, als habe er nur auf diesen Anruf gewartet. Jeanne erklärte, wohin sie wollte. Beto war frei. Ob man sich treffen könne, um die Route zu besprechen? Kein Problem. Er versprach, in fünf Minuten an der Hotelrezeption zu sein. So schnell war vermutlich noch nie eine Reise organisiert worden.
    Trotzdem gönnte sich Jeanne einige Minuten unter der Dusche und zog sich um, bevor sie in die Lobby ging. Beto erwartete sie bereits. Ein alternder Pfadfinder, schoss es ihr durch den Kopf. Der etwa vierzigjährige, heiter wirkende Mann trug einen großen Hut, ein Hemd, khakifarbene Shorts und Kniestrümpfe.
    Beto gab ihr ein Küsschen, was Jeanne missfiel, obgleich es in Argentinien üblich war. Sie schlug ihm vor, ins Hotelrestaurant zu gehen. Es war ein Uhr. Obwohl im Speisesaal Hochbetrieb herrschte, fanden sie noch einen freien Tisch. Jeanne hatte sich an der Rezeption eine Landkarte von Nordost-Argentinien geholt. Nun faltete sie sie auseinander und eröffnete Beto sogleich, dass sie weder die Wasserfälle von Iguazú noch die Ruinen von San Ignacio in der Provinz Misiones – die einzigen Sehenswürdigkeiten in der Region, aber beide gut tausend Kilometer entfernt – besuchen wolle.
    Der Pfadfinder setzte seinen Hut ab.
    »Nicht?«
    »Nein. Ich will nach Campo Alegre.«
    »Dort gibt es nichts zu sehen!«
    »Trotzdem will ich dorthin.«
    »Wozu?«
    »Um den Wald der Manen aufzusuchen.«
    »Der ist unzugänglich.«
    »Sagen Sie mir, wie man dorthin kommt.«
    Beto seufzte und legte dann seinen Zeigefinger auf die Karte.
    »Wir sind hier, in Formosa. Ich fahre Sie dorthin. Wir müssen die Bundesstraße 81 nehmen. Wenn ich von ›Straße‹ spreche, dann ist das eher als Scherz gemeint. Es handelt sich um eine Piste, die häufig unbefahrbar ist.«
    »Und dann?«
    Beto bewegte seinen Zeigefinger.
    »Nach etwa zweihundert Kilometern biegen wir hier, in Estanislao del Campo, nach Südosten ab und fahren über einen Pfad bis nach Campo Alegre.«
    »Wie lange dauert das?«
    »Über einen halben Tag.«
    »Und bis zum Wald der Manen?«
    Er kratzte sich an seinem sprießenden Bart.
    »Da muss ich mich erkundigen. Ich bin noch nie dort gewesen. Der einzige mögliche Zugang ist meines Erachtens der Fluss. Der Bermejo. Wissen Sie, was der Name bedeutet? ›Purpurrot.‹ Man nennt ihn so wegen seiner Farbe. Ich glaube, ein Schubleichter fährt den

Weitere Kostenlose Bücher