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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Tankstelle tauchte am Straßenrand auf.
    Nach zweistündiger Fahrt durch die eintönige Landschaft waren die beiden Zapfsäulen und das schäbige Gebäude eine willkommene Abwechslung. Jeanne stieg aus, um sich die Beine zu vertreten. Hier fand sie ein vergessenes Gefühl wieder, das sie bereits in Peru, Chile und Argentinien erlebt hatte. In kaum besiedelten Landschaften wird eine Tankstelle nicht von Verkehrslärm umtost, sie ist eine Oase der Stille.
    Auf dem Rückweg zum Wagen kam Jeanne an zwei Indios vorbei, die auf der Außentreppe des Gebäudes hockten. Die reglosen Männer, denen die Haare bis auf die Schultern fielen, verströmten einen Geruch von gemähtem Gras und vergorener Milch. Im Schein des künstlichen Lichts zeichneten sich ihre Gesichter als kleine dunkle Schilde ab. Ihre Züge erinnerten an Motive, die in Kaktusholz geschnitzt wurden. Skulpturen, die einen in Angst versetzen sollten. Vor allem die Augen, schmal wie Schlitze, jagten Jeanne einen heimlichen Schrecken ein.
    Einer der beiden schlürfte Matetee mit Hilfe einer eisernen Pipette, die in einen schwarzen Becher getaucht war. Neben ihm stand die Thermosflasche, sodass er jederzeit heißes Wasser nachgießen konnte. Jeanne erinnerte sich daran, dass der Noreste die traditionelle Anbauregion von yerba maté war.
    »Was macht er?«
    Das Gesicht des verschlafenen Féraud wirkte noch zerknitterter als seine Jacke.
    »Er trinkt Mate.«
    »Was ist das?«
    »Ein pflanzlicher Absud, der sehr bitter schmeckt. Typisch für Argentinien.«
    Der Indianer reichte die Pipette an seinen Nachbarn weiter, der seinerseits mit unbewegtem Gesicht daran zog.
    »Hervorragend geeignet, um sich Herpes einzufangen«, scherzte der Psychiater angewidert.
    Was für ein Idiot, dachte Jeanne. Jedenfalls sehr borniert, was seine Haltung zu diesem großartigen Land betraf. Im Geiste verabschiedete sie sich von den beiden Indios, die sie nicht einmal eines Blickes gewürdigt hatten. Ihr war es, als würde sie die große Leere in ihrem Innern sehen. Eine namenlose, grenzenlose Freiheit, die sie mit der Landschaft teilten. Sie besaßen nicht die Schutzgeländer des bürgerlichen Lebens. Ihr Geist kannte keine Zwänge. Sie standen mit den Göttern, der Unendlichkeit auf Du und Du. Ihre einzigen Grenzen waren der Horizont und die Jahreszeiten.
    Sie fuhren los.
    Schon lange war der Asphalt dem Lehmboden gewichen. Jeanne hatte sich nach vorn gesetzt. Sobald der Wagen auf dem holprigen Untergrund beschleunigte, kam es zu Erschütterungen, die durch Mark und Bein drangen. Dann wurde die Piste plötzlich sandig. Sie schlitterten wie in Schlammfeldern, was das unheimliche Gefühl erzeugte, im eigenen Körper zu versinken.
    Jeanne griff nach der Karte. Sie wollte die Route studieren. Sich nach Osten orientierend, sah sie, dass es nur eine Straße gab, die zunächst einen großen Bogen Richtung Süden beschrieb und dann in nördliche Richtung durch die Provinz Santiago del Estero verlief. Jeanne malte sich winzige Ortschaften aus, die alle hundert Kilometer auftauchten ...
    Um zwei Uhr nachts wachte sie auf. Ein Blick auf den Kilometerzähler. Sie hatte die Augen instinktiv geöffnet, als hätte sie gespürt, dass das einzige Ereignis dieser Nacht unmittelbar bevorstand: eine Kreuzung. Von der Ruta 89 wechselten sie bei der Ortschaft Avia Teray auf die Ruta 16. Der Chauffeur bog rechts ab. Dieses einzige Fahrmanöver markierte mehr oder minder einen Wechsel: Nun waren sie in einer anderen Provinz, dem Chaco, was in der Sprache der Ureinwohner »Jagd« bedeutete.
    Jeanne beugte sich wieder über die Karte. Sie fuhren jetzt Richtung Resistencia. Dort würden sie die Ruta 11 nehmen. Und nach weiteren zweihundert Kilometern wären sie endlich in Formosa. In ihrer Schläfrigkeit musste sie an einen Scherz denken. In Buenos Aires sagte man, das Rentenproblem ließe sich einfach dadurch lösen, dass man die Rentner in Urlaub schicke. Im Winter nach Feuerland, im Sommer nach Formosa. Dann würden sie die Wahl haben, an Kälte oder an einem Hitze -schlag zu sterben. Es hieß auch, man könne im Noreste nur nachts arbeiten, da dort tagsüber eine mörderische Hitze herrsche.
    Die Karte fiel ihr aus der Hand. Abermals überwältigte sie der Schlaf. In der Dunkelheit tauchten Alfonso Palin und Joachim auf. Joachim war noch das Kind auf dem Foto. Die Haut überzogen mit einer Kruste aus Speichel und Dreck, an der Rindenstücke, Blätter und Haare hafteten. Sein Vater stand hinter ihm. Man sah sein

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