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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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nicht gefunden hat.« Vielleicht hatte ihre Seele ihren Sinn gefunden ... Bis jetzt hatte sie ihre Kräfte auf Eros konzentriert. Die Suche nach Liebe. Dabei hatte sie vor allem den Tod gefunden. Die Gewalt. Thanatos. Bei ihrer Arbeit als Richterin fühlte sie sich am stärksten mit sich in Einklang ...
    Unter der Decke zog sie die Beine an. Ihre Gedanken schweiften ab. Sie ließ ihre letzten einsamen Nächte in Paris noch einmal Revue passieren. Als sie die Aufnahmen von den Therapiesitzungen anhörte. Als sie sich in der Dunkelheit selbst befriedigte ... Noch einmal durchlebte sie die Scham, die Bitterkeit dieser Stunden ... Aber das lag hinter ihr. Wie viele Tage hatte sie sich nicht mehr selbst befriedigt! Dank ihres geschärften Bewusstseins konnten sie solche unerfreulichen Dinge nicht mehr erschüttern. Mitten in diesem Albtraum fühlte sie sich reingewaschen, geläutert. Ganz und gar eins mit ihrer Mission, das Böse zur Strecke zu bringen.
    Jetzt ist Joachim da.
    Im Zimmer.
    Schwarz. Reglos. Über das Fußende des Bettes gebeugt. Wieder sieht er so aus wie auf dem Foto. Seine Haut ist überzogen mit Holzplättchen, Blättern und Haaren. Aus seinem Mund trieft Blut. Seine Augen, in denen Grausamkeit und Wahnsinn flackern, bewegen sich, ohne sie zu sehen. Der Junge schlottert, wie starr von Kälte.
    Er ist nicht allein.
    Hinter ihm sieht sie die Gestalt des Vaters. Hochgewachsen, schlank, reglos. Sein Haar bildet einen hellen Fleck in der Dunkelheit. In ihrem Traum – denn sie träumt gerade – fürchtet Jeanne, der Vater könne seinem Sohn befehlen, sie anzugreifen.
    Aber das Wolfskind nähert sich sacht. Sie kann sein schmutziges Gesicht eingehend betrachten. Sie hört seinen Atem. Ein Röcheln. Als hätten seine täglichen Schreie seine Atmungsorgane beschädigt. Jeanne fühlt sich kraftlos. Sie kann sich nicht rühren ...
    Joachim streckt seine um hundertachtzig Grad verdrehte Hand aus. Seine gekrümmten Nägel streifen Jeannes Gesicht. Er beugt sich zu ihr herab. Sein Atem riecht nach Humus, ausgerissenen Wurzeln, Blut. Er schnuppert an ihr. Sie gleitet immer tiefer in ihren Schlaf. Heiter, beruhigt, entspannt. Sie hat verstanden, dass er ihr nichts tun wird. Er respektiert sie. Er verehrt sie ...
    Sie ist seine Göttin. Seine Venus.
    Und dadurch ist sie für ihn unantastbar.

 
    77
    7.45 Uhr.
    Jeanne fuhr in die Höhe. Die Ziffern leuchteten auf dem Display ihres Handys. Die Zeit, zu der sie sich mit Féraud und Beto zum Frühstück verabredet hatte. Sie schlüpfte in ihre Jeans. Streifte ein T-Shirt und zwei Polohemden über und stürzte nach draußen.
    Die Sonne schien. Eine weiße, kalte, kräftige Sonne. Jeanne rieb sich die Arme, um sich aufzuwärmen, und klopfte an die Tür von Féraud. Keine Antwort. Sie klopfte kräftiger. Schließlich öffnete der Psychiater mit zerzaustem Haar und verquollenem Gesicht.
    Auch er hatte verschlafen.
    Zwei Schlafmützen ...
    »Es ist fast acht«, meinte sie trocken. »Wir werden das Schiff verpassen.«
    »Ich ... ich mach mich fertig.«
    »Ich warte im Speisesaal im Hauptgebäude auf dich«, sagte sie, wobei sie ohne nachzudenken zum »Du« wechselte. »Beto wird schon auf uns warten.«
    »Ein... einverstanden.«
    Jeanne ging an den Zimmern entlang. Sie fühlte sich noch schlaftrunken, angefüllt mit Bildern, diffusen Empfindungen ...
    Beto war nicht im Speisesaal. Ihr wurde bewusst, dass sie nicht einmal seine Handynummer hatte. Doch sie wollte sich keine Sorgen machen. Thermoskannen standen auf einer Theke. Kaffee. Milch. Heißes Wasser. Jeanne nahm sich einen Kaffee, ohne sich hinzusetzen. Sie verzichtete auf die trockenen Brotscheiben, die auf dem Büfett angerichtet waren.
    Acht Uhr.
    Das Schiff fuhr in dreißig Minuten. Wo steckte Beto? Hatte er sie im Stich gelassen? Geräusche hinter ihr. Féraud – einigermaßen auf der Höhe. Er war mit seinem Koffer heruntergekommen.
    »Trink einen Kaffee«, sagte sie. »Ich gehe nach oben und nehme meine Tasche. Danach holen wir Beto ab. Bei seinem Cousin.«
    »Wir wissen doch gar nicht, wo das ist!«
    »Doch. Zweihundert Meter von hier. Er hat es mir beschrieben. Für alle Fälle.«
    Einige Minuten später überquerten sie die Hauptstraße von Campo Alegre. Durch den Staubschleier sah man kleine Betonbuden und Holzhütten unter Blechdächern oder Plastikplanen. Hier war Grau keine Farbe, sondern eine Epidemie. Hühner tapsten gackernd über die Straße. Hunde, Schweine, Pferde ... Die Straße war etwas belebter als

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