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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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nachzudenken.
    Und vielleicht – dieser Gedanke kam ihr zum ersten Mal –, um nie mehr wiederzukehren.

 
    75
    Eine Hölle von Palmen.
    Das war der einzigartige Anblick, den die Landschaft bot. Hunderte, Tausende, Millionen von Palmen – so weit das Auge reichte. Geäst, spitz wie Bajonette, das sich endlos weit erstreckte. Vertrocknet, verbrannt, verkohlt. Spitze Nadeln. Klingen, die ins Fleisch schneiden konnten, bis sie die Adern öffneten. Um das Blut dem absoluten Herrscher, der Sonne, zurückzugeben ...
    Am Fuß dieser üppigen Vegetation erstreckte sich ein undurchdringliches Gewirr von Sträuchern, Zweigen und Lianen. Ein Gespinst so fein und grau wie Spinnweben, das durch die sengende Luft wehte. Die Erde war ziegelrot. Der Himmel war von einem reinen Blau, mit Wolkenstaffeln wie auf Gemälden von Watteau, Poussin oder Gainsborough.
    Jeanne war fasziniert. Hier gab es kaum Spuren von menschlichem oder tierischem Leben. Leitungsmasten, die durch die atmosphärische Konvektion auseinandergebrochen waren. Zaunpfähle. Nandus , die Strauße Argentiniens, die durch den Busch trappelten. Oder auch, auf der Piste selbst, Kadaver von Echsen, die sich in der Hitze aufgebläht hatten.
    Jeannes finanzielle Transaktionen hatten etliche Stunden gedauert. In dieser Zeit hatte Beto seinen Wagen vorbereitet – einen Jeep Land Cruiser, der gewiss nicht zu seiner ersten Expedition aufbrach, aber reif für seine letzte war. Außerdem hatte er die notwendige Ausrüstung für das Kampieren im Dschungel beschafft – ein Zelt, Metalltruhe, Macheten, getrocknetes Rindfleisch, Trockengemüse, Erdnüsse ...
    Um 16.00 Uhr hatten sie Formosa verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Die Piste wurde immer schlechter. Sie war von Löchern und Höckern übersät. Der Jeep schmiegte sich nicht an die Unebenheiten, sondern stieß sich davon ab. Vibrierend. Ächzend. Dröhnend. Dazu rumpelte die Expeditionsausrüstung im Kofferraum.
    Unbeeindruckt von dem Lärm und der Hitze plapperte Beto ohne Pause. Er beschrieb die wenigen Sehenswürdigkeiten der Region, schilderte die politischen Probleme der Provinz, sprach über das Kunsthandwerk der Indios ...
    Jeanne hakte bei diesem Thema nach. Sie wollte ein Detail überprüfen:
    »Hier in dieser Gegend lebt doch der Volksstamm der Matacos, oder?«
    »Das ist ein abfälliger Name, den ihnen die Spanier gegeben haben. Das Mataco ist ein kleines Gürteltier, das im Busch vorkommt. Sie selbst nennen sich anders, je nach ihrem Klan – Toba, Pilagá, Wichi ...«
    »Wie sind sie?«
    »Gefährlich. Sie haben den spanischen Eroberern lange Widerstand geleistet. Formosa ist die letzte Provinz, die erobert wurde. Die Hauptstadt ist nicht einmal hundert Jahre alt ...«
    »Wie leben sie?«
    »Auf traditionelle Weise. Jagd, Fischfang, Sammeln.«
    »Verwenden Sie Urucum?«
    »Was?«
    »Eine Pflanze, deren rote Samen zur Körperbemalung verwendet werden.«
    Die Augen des Pfadfinders funkelten unter dem Hut.
    »Natürlich! Sie hat hier einen anderen Namen, aber sie verwenden sie bei ihren Zeremonien.«
    »Gehen die Indios manchmal in den Wald der Manen?«, fragte Jeanne.
    »Nur an den Rand. Sie fürchten sich vor dem Wald.«
    »Wegen der Gespenster?«
    Beto zögerte, bevor er antwortete:
    »Es ist ... symbolischer. Für sie ist der Wald mit seinen embalsados wie ein verkleinertes Abbild der Welt.«
    »Wie das?«
    Beto ließ immer wieder das Lenkrad los, um seine Worte durch Gesten zu unterstreichen – erst in letzter Sekunde, kurz bevor der Land Cruiser im Graben gelandet wäre, nahm er es wieder in die Hand.
    »Machen Sie ein Experiment. Stellen Sie den Indios eines Morgens eine Frage. Sie bekommen eine Antwort. Am nächsten Tag stellen Sie ihnen die gleiche Frage, und Sie werden eine andere Antwort erhalten. Ihre Wahrnehmung der Welt wandelt sich ständig, verstehen Sie? Genauso wie der Wald, der ständig seine Form verändert und in Bewegung bleibt.«
    Etwa gegen 19.00 Uhr – es war mittlerweile dunkel geworden – bat Jeanne den Fahrer anzuhalten: Sie müsse mal kurz austreten. Mit der Dunkelheit war die Kälte zurückgekehrt. Jeanne sagte sich, dass der Chaco genauso weit südlich des Äquators lag wie die Sahara nördlich davon. Es waren die gleichen winterlichen Extreme: glühend heiß am Tag, eiskalt in der Nacht.
    Sie beschloss, sich hinter die ersten Bäume vorzuwagen. Sie schlotterte. Als sie sich ins Gestrüpp hockte, ertönte ein Schrei, der ihr das Blut in den Adern stocken ließ. Ein

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