Im Wald der stummen Schreie
heiseres, schreckliches Krächzen. Ein Brüllen, das überall im Busch widerzuhallen schien.
Jeanne erhob sich rasch wieder. Es war der gleiche Schrei wie in der Praxis von Féraud. Der Schrei, von dem der Ethologe Estévez Pierre Roberge erzählt hatte. Der Schrei der Brüllaffen. Hier gehörte er zum Alltag – und dennoch schien es ihr plötzlich, als schliche Joachim hier umher.
Sie eilte zum Auto. Beto, der noch immer Shorts trug, aber jetzt in einen Parka eingemummt war, schlürfte, auf die Motorhaube gestützt, an seinem Matetee. Féraud streckte sich und lockerte sich die Beine. Ihre Gesichter waren überzogen von rotem Staub. Jeanne ahnte, dass es bei ihr nicht anders war.
»Habt ihr das gehört?«
»Klar«, sagte Beto, einen Strohhalm zwischen den Zähnen.
»Sind das Brüllaffen?«
»Hier in der Gegend wimmelt es von ihnen.«
Beto wirkte nicht im Geringsten erschrocken. Als guter Reisebegleiter fügte er hinzu:
»Sie stehen im Guinness-Buch als die ›lautesten Tiere der Welt‹ ...«
Jeanne betrachtete ihre beiden Kampfgefährten. Mit seinem Gaucho-Hut, der aus einem Duty-free-Shop zu stammen schien, und seinen Klamotten im Stil von Indiana Jones entsprach Beto in keiner Weise ihrem Bild von einem pfiffigen und gewieften einheimischen Fremdenführer. Und was Féraud betraf ...
Ich fahre mit ihnen den Fluss hinauf und lasse sie dann einfach zurück, bevor ich den Wald in Angriff nehme ...
76
Campo Alegre war eine Geisterstadt.
Sie trafen gegen Mitternacht dort ein. Straßen aus gestampftem Boden, staubverweht. Hütten aus Leichtbausteinen oder Beton. Rachitische Hunde, die, erschöpft von der Hitze des Tages, ausgestreckt herumlagen und in der Kälte der Nacht zitterten. Zerlumpte Soldaten, die nicht minder mitgenommen waren, schienen auf eine Ablösung zu warten, die nie kommen würde.
All dies tauchte im Schein von Windlichtern auf, die an Türschwellen standen. Aber noch stärker als die Finsternis empfand Jeanne eine vage, bedrohliche Leere. Campo Alegre, eine Stadt, die durch einen Windstoß oder eine Schlammflut verschwinden konnte ...
Am Ende der Hauptstraße stand ein Motel.
Eine Flucht von Zimmern, aus bemalten Backsteinen gebaut. Jähe, heftige Böen wirbelten Staub auf, rissen Palmzweige und Blätter mit sich.
»Wirkt von außen nicht gerade umwerfend«, sagte Beto, während er den Wagen auf dem Parkplatz abstellte. »Aber im Innern ist es komfortabel.«
Sie stiegen aus dem Jeep. Die Temperatur war noch weiter gefallen. Fast auf null. Vor dem Hotel hatte sich eine Gruppe eingemummter Frauen um ein Kohlenbecken versammelt. Zu welchem sozialen Zweck sie hier ausharrten, war unverkennbar. Hinter den Dampfwölkchen, die von ihren Lippen aufstiegen, sah man grell geschminkte Gesichter, die bemalten Tonmasken glichen.
Ihr Fahrer erklärte, er werde nicht weit von hier in einer Hütte übernachten, die einem Cousin gehöre. Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen um Viertel vor acht. Das Schiff nach Paraguay fuhr um halb neun.
Jeanne brachte die Anmeldeformalitäten in einer Art Dämmerzustand hinter sich. Eintrag ins Gästebuch, Abgabe der Pässe, Vorkasse, die Schlüssel. Sie hatte keine Lust, mit Féraud noch eine Kleinigkeit zu essen. Sie verabschiedete sich von ihm und ging auf ihr Zimmer.
Vier graue Wände. Ein durchhängendes Bett. Eine abgenutzte Decke. Eine schwache Deckenlampe. Das Badezimmer war nicht mehr als eine Duschkabine aus Kunststoff. Jeanne warf einen Blick auf ihr Handy. Keine Nachricht, aber noch immer Empfang. Sie hatte die zivilisierte Welt noch nicht verlassen. Nicht ganz.
Sie war dankbar für den dünnen Wasserstrahl, der ihr erlaubte, sich zu entstauben. Dann schaltete sie das Licht aus und ließ sich auf das Bett fallen. Als sie die Augen schloss, sah sie im Geiste noch einmal die Palmen, das Unterholz, die Dornen ... Eine Szenerie, deren innere Logik das Feuer, die Dürre und die Grausamkeit war. Ihre Gliedmaßen zitterten noch von den Erschütterungen des Jeeps. Diese endlose Savanne hatte Besitz von ihr ergriffen ...
Trotzdem fühlte sie sich gut. Erschöpft, benommen, berauscht. Alles schien weit weg zu sein. Die drohende Gefahr. Joachim. Das Geheimnis des Waldes ... Diese Ängste hatten keine Gewalt mehr über sie. Sie wusste nicht einmal mehr, wohin die Reise ging ... Sie war sich nur sicher, dass sie ihr Leben verändern, ihre Seele formen würde. C. G. Jung hatte geschrieben: »Die Neurose ist das Leiden der Seele, die ihren Sinn
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