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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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letzte Nacht, aber alles lief in Zeitlupe ab. Der Puls dieses Marktfleckens schlug ganz schwach.
    Die Hütte des Cousins war die dritte auf der rechten Seite im zweiten Gässchen links. Ein würfelförmiger Bretterverschlag in einem sandbedeckten Innenhof. Jeanne klopfte mehrmals an die Tür. Keine Antwort. Der Fremdenführer hatte sich nicht davongemacht. Sein Land Cruiser stand noch immer auf dem Parkplatz des Motels.
    »Beto?«
    Jeanne hob den Eisendraht an und stieß die Tür dahinter auf. Sie erblickte einen Haufen Gerümpel im Licht der Sonnenstrahlen, die durch die Spalten zwischen den Latten fielen. Kochtöpfe, Macheten, Seile, Holzkisten, Stoffe, Pfannen, Lappen, Säcke mit Erdnüssen, Gläser, Flaschen ... All dies war an den Wänden aufgehängt oder am Boden angehäuft, bunt zusammengewürfelt, ein wucherndes Sammelsurium.
    »Beto?«
    Das Innere der Hütte bot einen angenehmen schattigen Unterschlupf. Der Geruch von Sägemehl lag in der Luft.
    Jeanne erspähte die Hängematte.
    »Beto?«
    Er war da, den Hut auf dem Gesicht, eingesunken in dem Tuchbogen. Eine schwarze Lache erstreckte sich über den Boden. Die Leiche, die durch den Tod noch schwerer geworden zu sein schien, ließ die Matte bis zum Boden durchhängen. Jeanne näherte sich. Ein Lichtstreifen beleuchtete Betos Kehle, die von einem Ohr bis zum anderen aufgeschlitzt war. Der Mörder hatte einen langen, tiefen Schnitt gemacht und dabei zugleich die Halsschlagader und die Drosselvene durchtrennt. Jeanne hatte nicht den geringsten Zweifel, was die Identität des Mörders anlangte.
    »Ich kann nicht mehr.«
    Die Stimme Férauds in ihrem Rücken. Er zitterte, als würde er von Krämpfen geschüttelt. Sie dagegen rührte sich nicht. Ihr eigenes Blut kam ihr schwerer, träger vor. Joachim. Er will, dass wir ihm allein gegenübertreten. Ohne Helfer, ohne Ausrüstung. Im Wald der Manen ...
    Der Psychiater packte sie an der Schulter und drehte sie jäh zu sich herum.
    »Haben Sie gehört, was ich gesagt habe? ICH KANN NICHT MEHR!«
    »Beruhige dich.«
    Ihr ging plötzlich noch etwas anderes auf. Joachim wollte nicht, dass sie zusammen in den Wald der Manen kommen. Er erwartete sie – und nur sie. Féraud war der Nächste auf seiner Liste. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit würde das Wolfskind ihn ausschalten.
    Féraud ließ ihre Schulter los und senkte den Kopf.
    »Ich beruhige mich ja. Und ich gebe auf.«
    »Wie du willst.«
    »Werden Sie allein weitermachen?«
    Jeanne blickte auf ihre Uhr.
    »Das Schiff fährt in zehn Minuten«, sagte sie, zur Tür gehend.
    »Und er? Lassen Sie ihn hier? Ohne die Polizei zu benachrichtigen?«
    In der Tür drehte sie sich zu Féraud um.
    »Welche Polizei? Es wird drei Tage dauern, bis die Einwohner die nächstgelegene Polizeiwache kontaktiert haben. Niemand wird eine Verbindung zwischen Beto und uns herstellen. Wir sind nachts angekommen und haben nicht am selben Ort übernachtet.«
    »Das Auto? Die Ausrüstung?«
    »Wir lassen alles hier. Fahr mit dem Bus nach Formosa zurück ...«
    »Nein.«
    Er holte sie auf der Außentreppe ein. Am liebsten hätte Jeanne ihn angebrüllt, er solle nach Frankreich zurückfahren und sich wieder in seine nebulösen Theorien über die menschliche Psyche vertiefen. Sie werde den Mörder allein zur Strecke bringen.
    Aber Féraud betrachtete sie jetzt mit gerunzelter Stirn.
    »Was haben Sie auf dem Gesicht?«
    Er streckte die Hand aus und hob Jeannes Strähnen an.
    »Blut. Haben Sie sich verletzt?«
    »Wo?«, fragte Jeanne und tastete sich das Gesicht ab.
    »Haben Sie die Leiche berührt?«
    Sie antwortete nicht. Selbst wenn sie den Kopf in die Wunde Betos gesteckt hätte, hätte sie sich nicht so beflecken können. Die Wunden des Fremdenführers bluteten schon lange nicht mehr. Das Blut kam anderswoher .
    Jeanne drehte sich um und kehrte in die Hütte zurück. Sie griff nach einem Spiegel, der an der Wand hing, und drehte ihn in Richtung ihres Gesichts. Ein schwärzlicher Streifen zog sich über ihre linke Schläfe. Sie strich ihre Haare zurück. Kein einfacher Strich. Ein Abdruck. Der unvollständige Abdruck eines Handtellers, dann des Ringfingers und des kleinen Fingers ...
    Eine sehr grazile Hand. Die eines Jugendlichen.
    Es verschlug ihr den Atem, als sie das erkannte, was offenkundig war. Ihr Traum war kein Traum. Als sie das Gefühl gehabt hatte, in ihrem Zimmer zu einer Venus zu werden, als sie gesehen hatte, wie sich der von Pflanzenresten bedeckte Joachim über sie beugte

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