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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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das typisch war für ein herrschaftliches Gutshaus. Auf dem Boden Fliesen aus gebranntem Ton. Ein hoher Kamin, daneben Holzscheite. An den Wänden Krokodil- und Hirschhäute. Sessel und Sofa um einen niedrigen Tisch aus dunklem Holz, auf dem Fernbedienungen lagen. In einer Ecke stand ein großer Bildschirm. Alles scheinbar völlig banal. So hätte sich Jeanne die Höhle des Zentauren nicht vorgestellt.
    Sie wandten sich dem Flur zu. Jeanne ging an einem Spiegel vorbei. Sie konnte nicht glauben, dass das Bild, das darin auftauchte, sie war. Ein Skelett, das in viel zu weiten Khakiklamotten steckte. Ein eingefallenes und verrunzeltes graues Gesicht. Sie, die sich nur erschöpft und seltsamerweise gegen jegliche Gefahr gefeit fühlte, war nur noch ein Kadaver, dem noch eine Galgenfrist gewährt wurde.
    Féraud überholte sie im Flur. Jeanne folgte ihm. Ein diffuses Gefühl beschlich sie. Irgendetwas stimmte nicht. Alles war zu leicht. Eine Tür, die offen stand. Féraud blieb stehen. Jeanne trat zu ihm auf die Schwelle.
    Das Büro von Alfonso Palin.
    Jeanne schob sich an Féraud vorbei. Weiße, verputzte Wände. Gebohnerter Eichenfußboden. Möbel im kastilischen Stil. Ein Schreibtisch stand schräg vor einem steinernen Kamin. Riesige Fenster gingen auf die Koppeln. Die Morgensonne drang mit brutaler Gewalt ins Innere und brachte Träume von einem üppigen Frühstück, von wunderbaren Tagen, von Ausritten mit sich ...
    Die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Dass man bis auf die Knochen fror. Jeanne ging weiter. Ein Detail weckte ihre Aufmerksamkeit. Auf den Regalen an den Wänden standen zahlreiche eingerahmte Fotos. Sie erkannte Familienporträts, auf denen immer ein Vater und sein Sohn – oder der Sohn allein – zu sehen waren.
    Sie atmete nicht mehr, ein beklemmendes Gefühl in der Brust.
    Sie wusste, dass sich der Schlüssel zu der ganzen Geschichte auf diesen Fotos befand.
    Alfonso Palin und Joachim.
    Der Zentaur und sein unehelicher Sohn.
    Noch ein Schritt, und sie griff nach einem Rahmen.
    Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
    Etwas, was ganz offensichtlich gewesen war.
    Dennoch war es ihr nie in den Sinn gekommen.
    Hinter ihr erhob sich die Stimme Joachims.
    Das, was in ihm war, sang:
    »... se irán contigo / Me olvidarás, me olvidarás / Junto a la estación hoy lloraré igual que un niño / Porque te vas, porque te vas ...«
    Von einer unbegreiflichen, übermenschlichen Ruhe ergriffen, stellte Jeanne das Porträt des Vaters und seines Kindes zurück, ohne sich umzudrehen. Alfonso Palin sagte mit seiner rauen Stimme auf Spanisch:
    »Sei still, Joachim! Jeanne muss die Wahrheit erfahren.«
    Sie ballte die Fäuste und drehte sich endlich um.
    Niemand stand vor ihr.
    Niemand, bis auf Antoine Féraud.
    Antoine Féraud, der, als Jugendlicher aufgenommen, auch an allen Wänden zu sehen war, im Polohemd, in der Studentenuniform einer Elite-Hochschule, auf einer Segeljacht, beim Skifahren ...
    Oder in den Armen seines Vaters.

 
    85
    Der junge Mann nahm seine schwarze Brille ab. Seine Augen waren blutunterlaufen.
    »Jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, werde ich blind. Meine Augen vergießen Bluttränen. Bestimmt das Ödipussyndrom. Der Täter, der die brutale Gewalt seiner Vergehen nicht ertragen kann ...«
    Jeanne konzentrierte sich auf das rechts von ihr stehende Schwarz-Weiß-Foto. Alfonso Palin, ein großer Mann mit silbernem Haar, drückte seinen Sohn an sich, einen schmächtigen Jugendlichen mit gerunzelter Stirn. Der Psychiater, zwanzig Jahre jünger.
    »Wann hast du deinen Vater umgebracht?«, fragte Jeanne auf Spanisch.
    »Ich habe ihn 1994 geopfert und verzehrt. Hier. Damals habe ich an der Universität Buenos Aires Jura und Paläontologie studiert. Ich habe viel gelesen. Vor allem Totem und Tabu . Er hat sich nicht einmal gewehrt. All dies stand geschrieben, verstehst du? Die Erste Opferung. Die Urschuld. Im Übrigen ist er an diesem Tag nicht gestorben. Ich habe ihn in mich aufgenommen. Er lebt weiter.« Er schlug sich auf die Brust. »Hier.«
    Als Richterin musste Jeanne noch viel lernen. Sie hatte sich wie ein Neuling ins Bockshorn jagen lassen. Alles hatte mit einer Aufnahme begonnen. Der CD vom Freitag, dem 6. Juni 2008. Drei Stimmen. Antoine Féraud. Alfonso Palin. Joachim Palin. Genaugenommen vier, wenn man das Wolfskind, das sich in dem argentinischen Anwalt verbarg, mitzählte. Sie hatte diese Personen nie mit eigenen Augen gesehen. Sie hatte sie um die einzige Person, der sie

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