Im Wald der stummen Schreie
Figuren in den unterschiedlichsten Stellungen, die eine gummiartige Trägheit ausstrahlten. Jede trug eine Krone aus demselben Material, die an eine elastische Aura erinnerte. Hohle Torsi und geschmeidige Gliedmaßen lagen auf dem Boden. Gießformen. Jeanne erinnerte sich an die Technik, die hier angewandt wurde: Die Künstler im Atelier modellierten zuerst einen Körper aus Ton, den sie anschließend in Elastomer abformten. Dieser Abdruck diente zur Herstellung der Silikonstatue.
In der dritten Halle war das Opferritual vollzogen worden.
Taine bat die Techniker vom Erkennungsdienst, die weiße Overalls trugen:
»Könnten Sie uns einen Moment allein lassen?«
Wortlos verließen die Männer den Raum. Jeanne folgte dem Richter. Der Anblick, der sich ihr bot, erschütterte sie. Doch das Grauen des Blutbads wurde sogleich von der Vorstellung überlagert, dass diesmal prähistorische Menschen – echte Urmenschen – zu diesem Ritual erschienen waren. Das Opfer hing noch immer mit dem Kopf nach unten in der Mitte des Raumes, umgeben von starren Gestalten in Tierfellen als schweigenden Beobachtern. Struppige Jäger mit mächtigen Augenbrauenwülsten und hervorstehenden Wangenknochen, die Rehe auf ihren Schultern trugen oder aufgespießte Fische an der Spitze der Harpunen schwenkten. Ihre Körperhaltung verriet Demut und zugleich Triumphgefühl. Hominiden, die stolz darauf waren, abermals die Natur bezwungen zu haben.
»Der reinste Wahnsinn, oder?«, flüsterte Taine.
Jeanne nickte nur knapp mit dem Kopf. Mit angehaltenem Atem betrachtete sie das Opfer. Es war nackt.
Mit einem Bein an der Decke aufgehängt.
Der Mörder hatte die Flaschenzüge benutzt, die zweifellos installiert worden waren, um die Skulpturen hochzuziehen. Die Frau selbst glich einer bemalten Statue. Von der weißen Haut stachen bläuliche Hämatome und schwarze Blutfäden ab. Ihr freies Bein war auf rätselhafte Weise zum Bauch hin angewinkelt, wie bei einem Läufer am Start. Ein skurriles Detail: Der Rechtsmediziner hatte bereits ein Thermometer in ihr Ohr eingeführt, um die Körpertemperatur zu messen.
Jeanne setzte ihre Leichenschau fort. Der Mörder hatte seinem Opfer den Unterleib aufgeschlitzt, vom Bauch bis zum Schambein, und die Eingeweide bis zum Boden herausgezogen, sodass sie das Gesicht der Frau teilweise verdeckten. Hinter den Gedärmen sah man Ausschnitte ihres geschwollenen bläulichen Gesichts sowie die klaffende Halswunde.
Sie versuchte den Tathergang zu rekonstruieren. Entweder war der Mörder gestört worden und konnte seinen Plan nicht zu Ende führen. Oder aber, auch das war möglich, er hatte seine Vorgehensweise abgewandelt. Jedenfalls hatte er die Frau nicht heruntergelassen und nicht zerstückelt. Er hatte sich damit begnügt, Fleischstücke aus den Schenkeln, der Leiste und dem Gesäß herauszureißen. Zweifellos, um sie zu verzehren.
Auf dem Boden befanden sich Blutspuren, Fleischreste, Muskelfasern – zurückgelassen oder ausgewürgt. Knochen und Knorpel, abgekratzt und ausgesaugt. Kein Feuer, kein barbarischer Grillteller heute Nacht. Der Kannibale hatte sich mit rohem Fleisch begnügt.
Jeanne sah sich um. Über den Werkzeugen und den Büsten auf den Regalen sah sie an den Wänden mit Blut gemalte Zeichen, die an Bäume mit mannigfaltigen Ästen in Form von X und Y erinnerten. Mehr denn je glichen diese sich wiederholenden Sequenzen den Chromosomen eines Karyogramms.
Als sie endlich wieder Atem holte, bemerkte sie, dass die Gerüche von Lösungsmitteln und Harz den Gestank von Blut und Fleisch überdeckten. Schwache Erleichterung ... Da musste sie wieder an die Raserei des Mörders denken. Im Geiste nannte sie ihn nicht »Joachim«. Jetzt, da sie mit der ganzen Abscheulichkeit des Verbrechens konfrontiert war, konnte sie es einfach nicht glauben, dass sie die Stimme des Täters gehört hatte.
Dieser Mörder rief archaische Gottheiten an. Vielleicht hoffte er, auf diese Weise seine Seele oder die Erde oder die Menschheit zu retten. Jeanne erinnerte sich an Herbert Mullin, einen amerikanischen Serienmörder, der durch seine Opferungen Erdbeben abzuwenden glaubte und den Grad der Luftverschmutzung aus den Eingeweiden seiner Opfer herauslas.
Fest stand jedenfalls, dass der Mörder Francesca Tercia wegen ihres Berufs ausgewählt hatte. Er wollte in dieser Umgebung, im trauten Kreis von seinesgleichen zur Tat schreiten: Urmenschen, die, wie er, von Überlebensinstinkten und archaischen Überzeugungen beseelt waren.
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