Im Wald der stummen Schreie
Sonne. Reglos, mit starren Augen und zerfurchten Gesichtern, lagen sie da. Sie nahmen nichts mehr wahr, dachten nichts mehr. Jeanne hatte immer geglaubt, Demenz, Alzheimer und alle anderen neuro-degenerativen Erkrankungen wären ein Geschenk des Himmels, damit der Mensch das Herannahen des Todes nicht spüre. In diesem hohen Alter bestehe das Glück darin, nicht mehr zählen zu können, weder die Jahre noch die Tage noch die Stunden. Ein vegetativer Zustand, in dem jede Sekunde ein Leben war.
Sie nahm die Hintertreppe, die sie mit großen Sätzen hinaufeilte. Sie erreichte den zweiten Stock, vermied es, die lebenden Toten im Fernsehzimmer zu betrachten, und trat mit gesenktem Kopf in das Zimmer ihrer Mutter.
Furchtbare Farben. Billigste Materialien. Private Nippsachen, die dem Zimmer eine persönliche Note verleihen sollten. Jedes Mal, wenn Jeanne hierherkam, musste sie an die Pharaonen denken, die sich mit vertrauten Gegenständen und ihren Sklaven beisetzen ließen. Dieses Zimmer war das Grabmal. Und sie, sie war die Sklavin.
»Hallo, Mama? Wie geht's?«
Sie zog ihre Jacke aus, ohne eine Antwort zu erwarten. Richtete ihre Mutter gerade, die leicht wie eine Feder war und ein versteinertes Gesicht hatte. Stützte sie mit Kopfkissen ab. Die alte Frau sah sie nicht. Und in gewisser Weise sah Jeanne sie ebenfalls nicht. Seit Jahren kam sie hierher. Jedes Mal stellte sie fest, dass der Tod an Boden gewonnen hatte. Ein Kilo weniger. Ein weiteres Erschlaffen der Muskeln. Vorspringende Knochen ...
Jeanne setzte sich hin und blickte aus dem Fenster. Eine Grünanlage mit Linden und Tannen. Aber selbst diese Bäume schienen von Gebrechlichkeit und Elend befallen zu sein. Sie gewahrte den Gestank im Zimmer. Gerüche nach Essen, Urin, Medikamenten. Sie kam nicht auf den Gedanken, das Fenster zu öffnen. Wozu? Draußen mussten die gleichen üblen Gerüche in der Luft schweben. Ihre Nase würde sich schon daran gewöhnen. So wie Bergsteiger beim Aufstieg Atempausen einlegen.
Die Zeit verging. Jeanne rührte sich nicht mehr. Den Fernseher hatte sie nicht eingeschaltet – die Sendungen, die sonntagnachmittags liefen, hätten ihr den Rest gegeben. Sie betrachtete auch nicht dieses kleine graue Etwas, das unter allzu dicken Decken begraben war. Die Hitze erschien ihr unerträglich, und die Gegenwart dieser eingemummten Sterbenden verstärkte noch ihr Unwohlsein.
Hinter der scheinbaren Ruhe der Szene hatte der Kampf begonnen. Jeanne bemühte sich, ihre Erinnerungen auf Distanz zu halten. Ihren Schmerz. Die Jahre, die sie mit dieser Frau verbracht hatte, mit der es seit dem Tod Maries immer weiter bergab gegangen war. Ihre Einweisung in eine Spezialklinik, als Jeanne ihr Studium aufgenommen hatte. Dann dieser rituelle, anstrengende, sinnlose Besuch jeden Sonntag. Jahrein jahraus. Von einer Anstalt zur nächsten. Ein Fixpunkt immerhin. Ein Pol in ihrem Leben. Selbst wenn sie jedes Mal ein wenig angegriffener, ein wenig zermürbter fortging.
Eine Stunde war vergangen. Sie beschloss, dass es reichte, dass sie ihre Pflicht getan hatte. Vor allem musste sie vor dem »Abendessen« das Weite suchen. Der Anblick des zahnlosen Mundes, der Babybrei verschlang, erschütterte sie ebenso heftig wie die Gemälde Bruegels, auf denen sich Lachen und Grauen in einem Kontrast des Schreckens verwoben. Ciao, Mama. Zwei Küsse, ohne zu atmen. Sie deckte sie zu. Die Tür. Die Erleichterung.
Jetzt blieb noch eine letzte Prüfung.
Eine sonntags geöffnete Tabakbar gegenüber dem Heim empfing sämtliche Nikotinsüchtigen der südlichen Pariser Vororte. Diese Warteschlange zerknitterter, bunt zusammengewürfelter Menschen, die es nicht erwarten konnten, sich mit Nachschub einzudecken, machte sie jedes Mal krank. Im Innern der Bar erkannte sie Trinker, die an der Theke abhingen. Sie dachte an Schaben, Asseln, Tausendfüßer, die sich unter einem Stein versteckten.
Aber vor allem befand sich nur wenige Meter entfernt ein geschlossener Zeitungskiosk, an dem Werbeplakate für Porno-Magazine hingen. Hot-Video. Penthouse. Voyeur ... Diese Bilder gaben ihr den Rest. Staubbefleckte, verschmierte Hochglanzaufnahmen von nacktem Fleisch. Fette, fahle Körper, die ein noch anämischeres Verlangen wecken sollten.
Jeanne suchte ihre Wagenschlüssel. Die jungen Frauen auf den Plakaten starrten sie an, mit ihren entblößten schweren Brüsten, ihren fettigen Lippen, ihren drallen Hüften. Sie öffnete die Fahrertür und wollte in ihren Twingo schlüpfen, ohne diese
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