Im Wald der stummen Schreie
Verbrechen zu erklären oder auch nur zu analysieren. Wir müssen den Täter finden und dingfest machen. Selbst wenn wir ihn geschnappt haben, wird die Tat rätselhaft bleiben.«
Isabelle Vioti blickte auf.
»Die Polizisten haben gesagt, es wäre nicht das erste Opfer.«
»Nach allem, was wir wissen, ist es das dritte Opfer. In kurzer Zeit.«
»Aber warum? Ich meine: Wieso ausgerechnet Francesca?«
Jeanne zog einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber.
»Sie ist kein zufälliges Opfer. Ihr Atelier interessierte den Mörder.«
»Mein Atelier?«
»Diese Morde haben alle einen prähistorischen Bezug. Haben Sie die Inschriften gesehen, die der Mörder an den Wänden hinterlassen hat?«
»Ja. Nein. Ich will das nicht sehen.«
Jeanne bohrte nicht nach. Sie würde ihr später Fotos zeigen. Vielleicht würde die Spezialistin etwas entdecken und ... Jeanne unterbrach ihre Überlegungen. Wo war sie mit ihren Gedanken? Es war nicht ihr Fall. Sie hatte keinerlei Befugnisse in dieser Sache. Auch wenn sie, vielleicht, den Täter kannte.
»Was dient Ihnen als Ausgangsmaterial, wenn Sie diese Menschen rekonstruieren? Gebeine?«
»Schädel- und Knochenabgüsse. Kopien von Fossilien, die in Afrika, Europa und Asien entdeckt wurden. Aus Sicherheitsgründen bleiben die Originale in den Museen.«
»Von wem bekommen Sie die Abgüsse?«
»Von Forschern, Museumskundlern.«
»Wurde Ihnen etwas gestohlen?«
»Was meinen Sie?«
»Ein Schädel, Fragmente. Ist noch alles da?«
»Ich weiß nicht. Müssen wir überprüfen. Weshalb sollte man uns bestehlen?«
»Kann ich mit dir sprechen?«
Jeanne drehte sich um. François Taine stand in der Tür – mit zorniger Miene. Sie ging zu ihm hinaus auf den Gang. In dem anderen Raum ließen Techniker vom Erkennungsdienst gemeinsam mit Sanitätern vorsichtig die Leiche herunter.
»Was machst du da? Leitest du jetzt die Ermittlungen?«
»Nein, ich wollte nur wissen, ob ...«
»Ich hab dich gehört. Was sollen diese Fragen? Glaubst du vielleicht, dass der Mörder Knochen stiehlt?«
»Bei Pavois hat er Fruchtwasser gestohlen. Er könnte jedes Mal irgendetwas mitgehen lassen. Eine Beute. Und ...«
Der Richter hörte nicht mehr zu, er musterte etwas oder jemanden, jenseits der Sanitäter und der Skulpturen. Langleber, den Rechtsmediziner. Taine hielt immer noch sein Diktaphon in der Hand. Doch seine Aufgabe, sämtliche Hinweise auf die Todesumstände am Tatort festzustellen, war bereits erledigt. Deshalb hatte er grünes Licht für den Abtransport der Leiche erteilt.
»Ich schwöre dir, wenn der Typ da mir wieder mit seinem Schwachsinn kommt ...«, stieß Taine zwischen den Zähnen hervor.
Langleber näherte sich.
»Wissen Sie, was Lacan gesagt hat?«
»Scheiße!«, zischte Taine.
»›Wenn Sie verstanden haben, irren Sie sich.‹«
»Hör auf mit dem Blödsinn!«, sagte der Richter.
Der Rechtsmediziner hob beschwichtigend beide Arme.
»Okay. Reden wir über die Arbeit. Die Vorgehensweise ist die gleiche. Außer dass der Herr in dieser Nacht gepfuscht hat. Entweder er wurde gestört, oder er wollte es schnell durchziehen, aus einem Grund, den wir nicht kennen. Er hat das Opfer nicht heruntergelassen. Er hat es nicht zerstückelt. Er hat kein Stück gebraten. Ansonsten ist er so vorgegangen wie zuvor. Er hat das Opfer ausbluten gelassen, ihm dann Bisswunden beigebracht und Organe entnommen.«
»Ich will deinen Bericht morgen früh.«
»Kriegst du. Bis auf einige Details der Verstümmelung ist es haargenau das Gleiche wie bei den vorangehenden Morden.«
»Welche Details?«, fragte Jeanne.
»Er hat ihre Augen verzehrt.«
Taine schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht mehr«, sagte er angewidert zu Jeanne. »Los, verschwinden wir.«
Sie verabschiedeten sich von Langleber und durchquerten zuerst die Halle mit den Abgüssen und dann die mit den Köpfen. Draußen eilten Polizisten geschäftig hin und her. Einige waren noch immer beschäftigt, Absperrbänder um den größten Innenhof zu spannen. Andere überwachten die Eingänge zu den Gebäuden. Kein Unbeteiligter durfte sich innerhalb der Polizeiabsperrung aufhalten – dafür hingen alle Anwohner in ihren Fenstern.
Reischenbach schlüpfte unter einem Band durch und kam ihnen entgegen.
»So ein Mist, die Pressefritzen sind draußen!«
»Das auch noch!«, stöhnte Taine. »Wer hat sie benachrichtigt?«
»Wir jedenfalls nicht. Was machen wir?«
»Sag ihnen, dass der Staatsanwalt übermorgen früh, Montag, eine
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