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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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bekanntgegeben werden.
    Hatte Antoine Féraud diesen Artikel gelesen? Hatte er morgens die Radionachrichten gehört? Hatte er in diesem Fall die Verbindung zu Joachim hergestellt, dem Sohn seines Patienten? Sie beschloss zu improvisieren. Wählte seine Nummer. Anrufbeantworter. Sie legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Und Taine? Sie rief ihn an. Ebenfalls der Anrufbeantworter. Diesmal sagte sie:
    »Hier spricht Jeanne. Es ist zwölf Uhr. Ruf mich an, sobald du etwas Neues hast.«
    Es gab nichts mehr zu tun. Außer den Sonntag mit seiner zermürbenden Eintönigkeit vorübergehen zu lassen. Um sich zu beschäftigen, spielte sie auf ihrem Notebook noch einmal die beiden entscheidenden Therapiesitzungen ab. Die erste mit dem Vater allein: In ihm ist ein anderer Mensch ... Ein Kind, das wie ein Tumor im Innern meines Sohnes herangewachsen ist ... Die zweite mit Joachim persönlich: Der Wald, er beißt dich ... Noch genauso entsetzlich wie beim ersten Mal, aber keine Spur verständlicher. Nicht das kleinste Indiz zu entdecken.
    13.00 Uhr. Sie rief ein weiteres Mal bei Antoine Féraud an. Wieder der Anrufbeantworter. Diesmal hinterließ Jeanne eine Nachricht, wobei sie mit möglichst neutraler Stimme sprach. Sie bat ihn lediglich um Rückruf. Als sie auflegte, biss sie sich auf die Lippe. Der Psychiater hatte heute zweifellos Besseres zu tun, als mit ihr zu schäkern. Er würde bestimmt in ganz Paris nach dem Spanier und seinem Sohn suchen, um sie dazu zu bringen, sich der Polizei zu stellen ...
    Sie ging duschen, nachdem sie sich entschlossen hatte, die wahre, unvermeidliche sonntägliche Fron hinter sich zu bringen. Der Besuch ihrer Mutter im Pflegeheim. Zwei Sonntage war sie nicht dort gewesen, wobei sie sich die weite Fahrt nach Châtenay-Malabry mit billigen Ausreden erspart hatte. Diese Vorwände galten nicht ihrer Mutter, die schon lange nichts mehr mitbekam, sondern ihr selbst. Sie hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, ihr diese Besuche zu schulden.
    Sie aß im Stehen in ihrer Küche. Eine Schale trockenen Reis und Kirschtomaten. Sie hasste solche Tage. Die Sekunden, die Minuten, die Stunden wuchsen zu einem reinen Stalaktiten der Einsamkeit an. Sie schwieg. Hatte keine Lust, das Radio oder Fernsehen einzuschalten. Ihre Gedanken dehnten sich aus, schwollen an, bis sie in der gesamten Wohnung widerhallten. Sie hatte das Gefühl, verrückt zu werden, Stimmen zu hören. Es sei denn, sie sprach wie eine alte Frau mit sich selbst.
    Eines Tages hatte sie auf einem englischen Kanal eine Dokumentation über das Leben von Singles in Städten gesehen. Eine Frau in den Vierzigern sprach, in ihrer Küche sitzend, in die Kamera:
    »Ab wann kann man von echter Einsamkeit sprechen? Wenn man sich schon donnerstags vor dem Wochenende fürchtet? Wenn man seinen ganzen Samstag um den Einkauf im Supermarkt herum organisiert? Wenn schon die Berührung durch die Hand eines Arbeitskollegen genügt, um dich einen ganzen Abend lang zu verwirren ...?«
    Jeanne zitterte, als sie ihre Schale in den Geschirrspüler einräumte.
    14.00 Uhr. Noch immer kein Anruf. Weder von Féraud noch von Taine. Sie schlug ein Buch auf, konnte sich aber nicht konzentrieren. Hielt ein Mittagsschläfchen, dank der Tabletten, wodurch sie den Zeitpunkt der Abfahrt weiter hinausschob. Um halb vier wachte sie mit einem schweren Kopf auf. Nahm ihre Autoschlüssel und ihr iPhone. Schloss ihre Wohnung ab und holte tief Luft.
    Porte d' Orléans. Nationalstraße 20. Gentilly, Arcueil, Cachan ... Die Namen der Ortschaften änderten sich, aber die Landschaft blieb gleich. Staubige Pariser Vororte. Entblätterte Platanen, die im gleißenden Sonnenlicht Mühe hatten, ihre übliche Rolle zu spielen und die Tristesse der Gegend zu kaschieren. An der Kreuzung Croix-de-Berny tauchten Autobahnschilder auf, Brücken, Auffahrten, die Namen von Ortschaften, die noch weiter weg waren. Und darunter ein Meer von Dächern und Einfamilienhäusern aus Mühlsandstein. All dies schien in einer grauen Pfanne zu köcheln.
    Nach mehreren Kilometern stieß sie in Châtenay-Malabry auf die Avenue de la Division-Leclerc. Das Altenheim Alphedia befand sich am Ende der Straße. Ein modernes, unscheinbares Gebäude, das an ein drittklassiges Motel erinnerte. Auf einem Schild unter den Neonröhren stand »Seniorenresidenz«, aber das Haus glich eher einer Mischung aus Irrenanstalt und Hospiz.
    In der Eingangshalle nahmen bettlägrige Heimbewohner hinter schmutzigen Scheiben ein Bad in der

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