Im Wald der stummen Schreie
Pressekonferenz abhalten wird. Uns bleibt nichts anderes übrig, als alles auf den Tisch zu legen. In Anbetracht dessen, was wir haben, wird das schnell erledigt sein.«
Der Polizist verschwand. Taine nahm Jeanne am Arm und flüsterte:
»Komm, lass uns den Hinterausgang nehmen.«
Einige Minuten später standen sie wieder vor dem Eingang, der auf die Rue Civiale ging.
»Ich ruf dich an, sobald alle Ergebnisse vorliegen, und dann kochen wir uns am Wochenende was Feines, einverstanden?«
Wie beim ersten Mal, im Gebäude der Firma Pavois, war Taines natürliches Temperament wieder durchgebrochen. Jeanne fuhr ihn an:
»Such den Mörder! Das ist kein Spiel.«
Taines Lächeln verschwand. Nein, es war kein Spiel. Der Richter war für das Leben der nächsten Opfer verantwortlich – er wusste das. Und die Uhr, die lief, besaß ein Zifferblatt aus Blut und Zeiger aus Feuerstein.
Jeanne verabschiedete sich von ihm und begab sich nachdenklich zu ihrem Wagen. Zwei Gedanken gingen ihr durch den Kopf.
Der erste: Sie wollte mit Hilfe einiger Gläser Médoc ein paar Stunden schlafen. Der zweite: Sie wollte sich Antoine Féraud schnappen und ihm die Würmer aus der Nase ziehen.
Sie wollte nicht länger die verzückte Madonna in Museen oder das verliebte scheue Reh spielen.
Gesetz und Strafe – darum sollte es jetzt gehen.
22
Schon am nächsten Morgen wusste sie, dass das alles unmöglich war.
Antoine Féraud befragen: unmöglich. Er würde sich hinter dem ärztlichen Berufsgeheimnis verstecken. Ihm ihren wahren Beruf offenbaren: unmöglich. Sie würde ihn für immer verlieren. Ihm verraten, dass sie aus Liebeskummer seine Praxis mit Mikrofonen spicken ließ: UNMÖGLICH!
Blieb die andere Lösung: sich Taine anvertrauen und den Fall an ihn abtreten. Abgesehen davon, dass sie sich dafür schämen würde, ihre erbärmlichen Tricks – die versteckten Wanzen, weil sie es nicht ertrug, dass man sie sitzengelassen hatte – und ihre Perversität zu gestehen – die Tatsache, dass sie ihre Nächte damit zubrachte, den Geheimnissen anderer Menschen zu lauschen –, würde ihr Geständnis auch nichts nützen. Taine konnte Féraud nicht vorladen. Er durfte keines der Abhörprotokolle verwenden. Und dies schlicht und ergreifend deshalb, weil diese Aufzeichnungen illegal waren.
Jeanne sah auf ihrem Handy nach der Uhrzeit. Zwanzig nach zehn. Sonntag, der 8. Juni 2008. Sie rieb sich das Gesicht. Kater aufgrund von Medikamenteneinnahme. Am Vorabend hatte sie ihre Schubladen nach irgendetwas durchwühlt, mit dem sie sich betäuben konnte. Tafil, Stilnox, Loxapin. Der Schlaf hatte sie wie ein Leichentuch aus schnell aushärtendem Gips bedeckt. Jetzt fiel es ihr schwer, die Augen zu öffnen; sie hatte das Gefühl, eine imaginäre Kruste auf ihren Lidern aufzusprengen.
Mühsam erhob sie sich und ging in die Küche, von einer fürchterlichen Migräne geplagt. Eine Paracetamol 1000. Eine Trevilor. Ein Kaffee. Nein, ein Tee. Schon wieder herrschte eine drückende Hitze, die jeden Spalt ihrer Wohnung durchdrang. Wasserkocher. Yunnan-Tee. Teekanne. Während sie diese Gesten mechanisch ausführte, sagte sie sich immer wieder, dass sie nichts tun könne. Gar nichts.
Außer, vielleicht, einer Sache ...
Jeanne stellte ihre Tasse und die Teekanne auf ein Tablett und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Dort machte sie es sich auf ihrem Sofa bequem und überlegte sich eine Strategie. Sie konnte die Ahnungslose spielen, Féraud anrufen, ihn treffen und arglos mit ihm plaudern. Das Gespräch auf die Mordserie lenken. Aber aus welchem Grund? Angeblich leitete sie ein Textbüro. Woher also wusste sie von diesen Morden? Und wieso sollte ihr der Psychiater seine Meinung sagen? Sie kannten sich schließlich kaum.
Die Sonne brannte durch die hellen Vorhänge. Ein grelles Licht, das schon am Morgen alles in seine Glut tauchte.
Jeanne erinnerte sich, dass Reporter an den Tatorten gewesen waren. Sie holte ihr Notebook und loggte sich ins Internet ein. Le Journal du Dimanche. Auf der Titelseite der Ausgabe vom 8. Juni stand: »Barbarischer Mord im 10. Arrondissement.« Jeanne kaufte die Nummer mit ihrer Kreditkarte, lud die Seiten herunter. In der Rubrik »Vermischtes« auf Seite 7 wurde das Verbrechen in der Rue du Faubourg-du-Temple in groben Zügen geschildert. Der Journalist wusste so gut wie nichts. Er erwähnte weder die vorangehenden Morde noch den Kannibalismus. Diese Punkte würden am Montagmorgen bei der Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft
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