Im Wald der stummen Schreie
Frauen zu betrachten – aber dann warf sie ihnen doch einen kurzen Blick zu. Zu spät. Im Zeitraffer sah sie, wie sich ihre Träume von Ruhm – Kino, Fernsehen, Laufsteg – zerschlugen, bis sie schließlich in Porno-Magazinen landeten. Sie sah, wie ihre Körper welk wurden, ihre Seele unter den Schlägen enttäuschter Hoffnungen, erstickten Kummers und bitterer Jahre verfaulte ... Diese Frauen auf den Plakaten, das war die Frau im Allgemeinen. Die Kurzfassung unseres Schicksals : Lieben, Hoffen, Kinder kriegen, verrotten, bis man in einem dieser Heime landete, wo einen zu guter Letzt der Tod erwartete. In geistiger Umnachtung, im Koma.
Jeanne verriegelte die Türen und raste los. Sie hätte aufschreien oder sich übergeben können. Stattdessen heulte sie, drehte das Radio bis zum Anschlag auf. Suchte eine Frequenz, blieb an À ma place hängen. Axel Bauer und Zazie. Ein bitteres, unter die Haut gehendes Lied. »Je n'attends pas de toi / Que tu sois la même / Je n'attends pas de toi / Que tu me comprennes ...« 2
Am Stadtrand von Paris fühlte sie sich besser. Linkes Seineufer. Funkelnde Platanen. Schönheit des Haussmanschen Stadtbildes. Sogar ihre Einsamkeit, ihre Verzweiflung nahm hier ein anderes Gesicht an ... Auf dem Boulevard Raspail dachte sie an ihr Handy. Sie hatte es während des Aufenthalts bei ihrer Mutter ausgeschaltet.
Eine Nachricht.
Nicht von Féraud.
François Taine.
Sie presste den Hörer an ihr Ohr. Schweiß und Tränen klebten noch immer auf ihrer Haut.
»Jeanne? Ich muss dich sehen. Ich habe etwas Unglaubliches entdeckt. Eine Übereinstimmung zwischen den Opfern. Das passt zu deiner Theorie. Er wählt sie nicht zufällig aus. Ganz und gar nicht. Er hat einen Plan!«
Jeanne hörte zwei Stimmen gleichzeitig. Die Worte Taines, aber auch den spanischen Akzent von Joachims Vater: »Es handelt sich um ein Mosaik, verstehen Sie? Die einzelnen Steinchen fügen sich zu einem Bild.«
»Komm heute Abend um zehn zu mir«, fuhr der Richter fort, »Rue Moncey 18. Ich schicke dir den Code für die Haustür per SMS. Vorher muss ich noch etwas bei Francesca Tercia, dem dritten Opfer, besorgen. Du wirst sehen, das ist Wahnsinn!«
Jeanne legte auf. Sie war plötzlich ganz ruhig, regelrecht eisig. Sie hatte an der Ecke Boulevard Raspail und Boulevard Montparnasse angehalten. 18.00 Uhr. Ihr blieb reichlich Zeit, zu duschen, sich vorzubereiten und in der hereinbrechenden Dämmerung zu meditieren.
Wenn sie Taine aufsuchte, würde sie bereit sein.
Bereit, die reine Wahrheit zu empfangen.
23
Die Rue Moncey befindet sich auf den Anhöhen des 9. Arrondissements. Um halb zehn fuhr Jeanne die Rue de Clichy hinauf. Schon an der Kreuzung mit der Rue d'Athènes überkam sie eine ungute Vorahnung. Eine ungewöhnlich schwarze Dämmerung. Ein Brandgeruch, der aus dem Nichts zu kommen schien. Mehrere Feuerwehrautos überholten sie mit heulenden Sirenen.
Unwillkürlich flüsterte sie:
»François ...«
In Höhe der Rue de Milan bestätigte sich ihre Vorahnung. Die Nacht hatte tatsächlich ihre Textur verändert. Sie war düsterer, dichter. Ein Geruch nach Zerstörung schwebte in der Luft. Der Verkehr war zum Erliegen gekommen. Jeanne gelang es, in die Rue de Milan abzubiegen. Sie parkte vor einer Ausfahrt, nestelte ihren Dienstausweis aus ihrer Tasche, rannte Richtung Rue Moncey – glücklicherweise hatte sie eine Jeans und Converse-Schuhe angezogen.
Anwohner standen in den Haustüren. Fahrer stiegen aus, um nachzusehen, was da vor sich ging. Polizisten drängten die Schaulustigen ab, während Einsatzfahrzeuge die Straße blockierten. Jeanne rannte noch immer. Sie schwenkte ihren Ausweis, passierte die erste Absperrung, lief an den Feuerwehrautos entlang, passierte eine zweite Absperrung und bog in die Rue Moncey ein.
Ihr Herz raste. Flammen schlugen aus dem letzten Stockwerk eines Gebäudes auf halber Höhe der Straße. Die Nummer 18, kein Zweifel. Sie wich unter einen Hauseingang zurück und hätte sich in ihrer Panik beinahe übergeben.
Jeanne wartete einige Sekunden und lief dann wieder los. In dem stickigen Rauch bekam sie fast keine Luft mehr. Die Nacht wurde zu einem undurchdringlichen schwarzen Nebel. Das Prasseln der Flammen hallte in der Straßenflucht wider. Ein roter Winkel. Weiße Chromteile. Eine Gestalt vor der Rückseite eines LKWs. Sie rief. Kein Ton drang aus ihrer Kehle. Sie schlug dem Feuerwehrmann auf die Schulter.
Er war noch keine zwanzig Jahre alt. Jeanne streckte ihm ihren
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