Im Wald der stummen Schreie
Dinge lagen ... Die Nummer befand sich in der Akte.
»Sind Sie die neue Richterin, die die Ermittlungen leitet?«
Levels Stimme klang trotzig. Jeanne antwortete in bestimmtem Ton:
»Bis jetzt ist der Fall noch niemandem übertragen worden. Ich bin nur eine Kollegin und Freundin. Vor mir liegt die Ermittlungsakte von François Taine. Wieso gibt es hier keinen von Ihnen unterzeichneten Bericht?«
»Ich wurde ausgebootet, noch bevor ich meinen Bericht abgeben konnte.«
»Von François Taine?«
»Nein. Das ging über seinen Kopf hinweg. Beim dritten Mord war man wohl der Ansicht, meine Schlussfolgerungen seien bereits ... überholt.«
»Mich interessieren sie.«
Schweigen. Level dachte nach. Würde es ihm einen Vorteil bringen, mit dieser Unbekannten am Telefon zu sprechen? Konnte es dazu führen, dass man seine Dienste wieder in Anspruch nähme?
Sie schmeichelte ihm:
»Ich habe den Fall von Anfang an verfolgt. Ich war an zwei der drei Tatorte. Ich weiß, dass uns nur ein Psychologe weiterhelfen kann. Wir haben es hier mit einer bizarren Wahnwelt zu tun ...«
»Ich habe Ihnen diese Worte nicht in den Mund gelegt«, feixte Level.
»Die blutigen Zeichen beispielsweise.«
»Gab es am dritten Tatort auch welche?«
»Dieselben, ja.«
»Er hat die gleichen Materialien verwendet?«
»Diesmal hat er außerdem noch Fruchtwasser benutzt, das er beim zweiten Mord bei den Laboratoires Pavois mitgehen ließ.«
»Ich hab es gewusst.«
»Wieso?«
»Er wählt seine Tatorte nicht zufällig aus. Es geht ihm nicht so sehr um das Opfer, sondern vielmehr um eine bestimmte Kulisse, eine bestimmte Umgebung. Aus diesem Grund nimmt er am Tatort Dinge mit. Dieses Labor für genetische Analysen ist ein Tempel der Fruchtbarkeit. Wie ich gehört habe, fand der dritte Mord in einem gewissermaßen prähistorischen Umfeld statt. All dies bildet eine Einheit.«
»Wie meinen Sie das?«
»Jeder Mord ist eine Opferung. Das Leben des Opfers ist eine Gabe an einen geheimnisvollen Gott. Auch der Akt des Kannibalismus spielt dabei eine Rolle. Er erneuert denjenigen, der ihn ausführt. Vorstellungen, die mit Lebensenergie oder Gebärmutter zusammenhängen, stehen im Zentrum des Ritus.«
»Wie sieht das psychiatrische Profil des Mörders aus?«
»Er ist einerseits ein kalter, asozialer Psychopath, der seine Taten kontrolliert. Und gleichzeitig ein Psychotiker, der Anfälle hat, die er nicht steuern kann. In diesen Momenten rastet er total aus.«
Jeanne dachte an Joachim. An die stählerne Stimme.
»Halten Sie es für möglich, dass er an einer Persönlichkeitsspaltung leidet?«
»Dieser Begriff wird für alles Mögliche verwendet. Wenn Sie damit Schizophrenie meinen, würde ich sagen nein. Allerdings leidet er an einer Spaltung. Über einen Teil von sich hat er keine Kontrolle.«
In diesem Fall stellte sich für Jeanne ein Problem. Joachim hatte Anfälle, an die er sich nicht erinnerte. Aber wer plante dann die Morde? Wer bereitete die Opferungen vor? Wer war der kühle Kopf, der die Fäden zog?
Sie musste an die Diagnose Férauds denken: Autismus. Sie erwähnte diese Krankheit.
»Das ist absurd«, antwortete Level, ohne zu zögern. »Der Autismus zeichnet sich durch eine totale Verleugnung der Außenwelt aus. Autos bedeutet im Griechischen ›selbst‹. Ein Mord aber ist, ob es einem gefällt oder nicht, eine Anerkennung des Anderen. Außerdem besitzt ein Autist nicht genügend innere Struktur, um solche Morde zu planen. Entgegen den weitverbreiteten Klischeevorstellungen vom ›autistischen Genie‹ leiden die meisten Autisten an einer erheblichen mentalen Retardierung.«
»Sie haben von Spaltung gesprochen ... wäre es möglich, dass der Mörder einerseits ein vernünftiger Mensch ist, der alles sorgfältig plant, und andererseits eine autistische Persönlichkeit, die tötet?«
»Autismus ist keine Erkrankung, die einen bestimmten Teil des Gehirns befällt, während der Rest normal funktioniert. Das ganze Gehirn ist davon betroffen, verstehen Sie?«
Jeanne bejahte. An dem Profil Joachims stimmte irgendetwas nicht ... Sie verabschiedete sich von dem Experten. Gleich nachdem sie aufgelegt hatte, läutete das Handy in ihrer Jackentasche.
»Emmanuel hier.« Jeanne verspürte eine gewisse Erleichterung über Aubussons Anruf. »Ich habe gerade die Nachmittagsausgabe von Le Monde gelesen. Was hat es denn mit diesem Brand auf sich?«
Jeanne blickte auf die Uhr. 15.30 Uhr. Le Monde vom Dienstag hatte also den ersten Artikel über die
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