Im Wald der stummen Schreie
Legitimation?«
Messaoud antwortete nicht. Er machte einen mitgenommenen Eindruck. Jeanne sagte sich, dass Taines Tod wirklich etwas Besonderes war. Zum ersten Mal kannten alle, die an den Ermittlungen beteiligt waren, das Opfer. In diesem Fall waren Polizisten, Ärzte, Techniker und Staatsanwälte zugleich Richter und Betroffene. Im Moment reagierten die meisten mit wohlkalkulierter Nüchternheit, indem sie sich ganz auf ihre Aufgaben und Befugnisse konzentrierten, um ihren Emotionen nur ja keinen Raum zu lassen.
»Okay«, fuhr sie fort. »Seid ihr sicher, dass es sich um Brandstiftung handelt?«
»Absolut. Wir haben Spuren von Brandbeschleuniger gefunden.«
»Was für ein Typ?«
»Kohlenwasserstoff. Benzin oder ein Lösungsmittel.«
»Wo lag der Brandherd?«
»Im fünften Stock. Im Flur vor Taines Wohnung. Das Holz des Parkettbodens ist an dieser Stelle nur auf der Oberseite geschwärzt. Das deutet auf eine zügige Brandentwicklung und nicht auf eine langsame Verbrennung hin. Eine Feuerlache nahm von dort ihren Ausgang und hat sich ausgebreitet.«
Jeanne sah sich wieder inmitten der Flammen, die Wohnungstür eintretend.
»Die Tür zu François' Wohnung hatte nicht gebrannt.«
»Das ist normal. Der Brandstifter muss Benzin unter der Tür hindurch gegossen haben. Das Feuer hat sich durch die Wohnung ausgebreitet und anschließend über die Fassade auf die unteren Stockwerke übergegriffen.«
»Ich hab gehört, dass Taines Arme mit einer Art Harz oder Lack überzogen gewesen waren.«
»Ja, das stimmt. Eine Art Kunststoff. Ich habe Proben zur Analyse eingeschickt.«
»Können Sie mir die Telefonnummer des Experten geben?«
»Nein. Im Übrigen wird er seine Untersuchungsergebnisse erst amtlich publik machen, wenn ihn der zuständige Richter beauftragt hat. Bis zum Beweis des Gegenteils sind das nicht Sie.«
Jeanne tat so, als hätte sie diese Worte nicht gehört.
»Ich habe mit Langleber gesprochen. Seiner Meinung nach ist es eine feuerfeste Substanz, mit der sich Taine die Arme eingerieben haben könnte, um sich gegen einen Brand zu schützen ...«
»Da bin ich anderer Meinung. Taine hatte ganz offensichtlich keinen Grund, einen Brandanschlag zu befürchten oder eine solche Substanz bei sich aufzubewahren. Jedenfalls wissen wir nicht, worum genau es sich handelt.«
»Haben Sie eine Idee?«
»Es ist möglich, dass etwas geschmolzen und auf ihn getropft ist. Etwa der Lack der Bücherregale, etwas in der Art. Aber nach den ersten Proben, die wir entnommen haben, ist diese Substanz nirgendwo sonst in seiner Wohnung zu finden. Unsere Untersuchung ist allerdings noch nicht abgeschlossen.«
Da schoss Jeanne ein Gedanke durch den Kopf. Eine umgekehrte Version der Ereignisse. Diese Flüssigkeit stammte vom Mörder ... Dieser hatte sich mit einer feuerfesten Substanz eingerieben, um sich zu schützen. Aus diesem Grund war er nackt. Und aus diesem Grund schien er auch die Flammen nicht zu spüren. Mochte es auch unglaublich erscheinen, sie hatte mit eigenen Augen gesehen, dass er inmitten des Feuers offenbar keinerlei Schmerzen empfand. Und es war keine zweite Leiche gefunden worden ... Er war lebend davongekommen.
»Und damit verabschiede ich mich von Ihnen, Jeanne«, sagte Messaoud. »Melden Sie sich wieder, wenn Ihnen der Fall offiziell übertragen wurde ...«
Sie hatte diesen Spruch allmählich satt.
»Haben Sie schon die Proben vom letzten Tatort, dem Atelier Vioti, analysiert?«
»Wir sind dabei.«
»Keine Unterschiede zu den vorangehenden Tatorten?«
Der Techniker antwortete nicht.
»Gibt es Unterschiede oder nicht?«
»Die Zeichen an den Wänden. Sie bestehen teilweise aus einer neuen Substanz. Neben Blut, Speichel und Exkrementen haben wir auch Fruchtwasser gefunden. Der Täter hat das bei dem Mord davor mitgehen lassen. Der ist wirklich durchgeknallt.«
Ein Fruchtbarkeitsritual, das mit einem Trauma in diesem Bereich zusammenhing ... War Joachim zeugungsunfähig? Oder war er wegen der Unfruchtbarkeit seiner Eltern in schwierige Verhältnisse hineingeboren worden?
Jeanne dankte dem Teamleiter und versprach ihn anzurufen, sobald sie offiziell mit dem Fall betraut worden sei. Er machte keinen Hehl aus seiner Skepsis. Sie wählte eine letzte Nummer. Wenn man schon ins Fettnäpfchen trat, konnte man auch gleich mit beiden Füßen hineinspringen! Sie wollte mit Bernard Level sprechen, dem Profiler, den Taine konsultiert hatte. Jeanne hielt nicht viel von psychologischen Methoden, aber so wie die
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