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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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nicht mit Taine darüber gesprochen?«
    »Ich wollte zuerst die Angaben überprüfen.«
    »Und du lässt einen Psychiater abhören? Bloß um einen ›Tipp zu überprüfen‹? Das sind ja wohl Gangstermethoden, Jeanne. Von wem stammt der Tipp?«
    »Das kann ich nicht sagen.«
    Der Richter schlug mit der Faust auf den Tisch. Das erste Anzeichen echter Gereiztheit.
    »Für wen hältst du dich? Eine Journalistin? Wir sind zur Transparenz verpflichtet, meine Kleine.«
    »Ich bin nicht deine ›Kleine‹. Ich wollte mich durch die Lauschoperation absichern, bevor ich die Information an Taine weiterleitete.«
    »Und was kam heraus?«
    Jeanne zögerte. Sie konnte ihr Problem leicht lösen. Sie brauchte nur die Aufnahmen der beiden Sitzungen Férauds mit dem Spanier zu übergeben. Aber man würde ihr den Fall nicht übertragen, und ihre Beweise wären dahin ...
    »Der Verdacht hat sich nicht bestätigt«, log sie. »Ich habe nichts herausgefunden.«
    »Hast du die Aufnahmen noch?«
    »Nein, ich habe alles vernichtet.«
    »Auch die versiegelten CDs?«
    »Alles. Ich bekomme die Aufnahmen jeweils am Abend. Es gibt keine Abschriften. Ich höre mir die CD an und vernichte sie zusammen mit dem Original.«
    Er griff nach seinem Füller, einem dicken, funkelnden Montblanc, als wolle er eine Anordnung aufsetzen.
    »Wir werden all dies regeln und dafür sorgen, dass es keine Wellen schlägt.«
    »Was meinst du mit ›all dies‹?«
    »Osttimor. Der Fall wird dir entzogen. Acta est fabula . Das Stück ist zu Ende, Jeanne.«
    Sie lächelte. Im Grunde war es ihr egal. Sie spürte, dass sie wieder ruhig wurde. Doch sie hatte einen festen Vorsatz gefasst: Sie würde Joachim festnehmen, ganz gleich, wo. Um dieses Ziel zu erreichen, gab es nur noch eine Lösung. Sie musste die Ermittlungen allein fortführen, und zwar ohne Rücksicht auf die geltenden Gesetze.
    »In diesem Fall«, sagte sie, »lass ich mich beurlauben. Ich habe ziemlich viele Urlaubstage angesammelt. Ich glaube nicht, dass es ein Problem geben wird.«
    »Wie du willst.«
    Der Präsident zog eine Schublade auf und holte eine Zigarre heraus. Langsam führte er ein Ende in einen kleinen Zigarrenabschneider ein, dessen Knattern im Büro widerhallte. Jeanne stand langsam auf. Ihre Hände waren nicht mehr klamm. Sie zitterten auch nicht.
    »Bevor ich gehe, will ich dir noch etwas sagen«, äußerte sie mit sanfter Stimme.
    Der Präsident sah auf, während er mit einem schweren goldenen Dupont-Feuerzeug spielte.
    »Du bist ein großes Macho-Schwein!«, sagte sie ruhig.
    Der Richter lächelte hämisch.
    »Wenn du auf solche Ausfälligkeiten stehst, sag ich nur: Lass dich doch ...«
    »... Umlegen?« Sie beugte sich über seinen Schreibtisch. »Längst passiert. Durch dich! Durch all die anderen, Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte beim Landgericht! Ihr engstirnigen und misogynen Idioten, die ihr nur an eure Karriere und eure Rente denkt!«
    Der Präsident zündete sich stumm seine Zigarre an. Die goldenen Rillen seines Feuerzeugs glänzten in der Sonne. Die Flamme züngelte vor seinem grauen, undurchdringlichen Gesicht. Diese versteinerte Miene holte sie in die Wirklichkeit zurück. Es brachte gar nichts, sich aufzuregen und zu schreien. Acta est fabula. Dennoch eilte Jeanne hastig aus dem Zimmer, um der Versuchung zu widerstehen, ihm mit seinem goldenen Dupont das Gesicht zu verbrennen.

 
    28
    17.00 Uhr.
    Sie musste sich beeilen. In wenigen Stunden würden die Teams für die beiden Ermittlungsverfahren, die François Taine betrafen, einsatzbereit sein. Dann würden weder sie noch Reischenbach an weitere Information herankommen. Und alles, was sie fortan zur Aufklärung der Verbrechen unternahmen, war illegal.
    Aber zuerst musste sie sich in die Akte vertiefen. Sich mit den Fakten vertraut machen. Die Opfer besser kennenlernen. Jeanne legte ihre Armbanduhr vor sich und stellte den Wecker auf 18.00 Uhr.
    Sie schlug die erste Aktenmappe auf.
    Marion Cantelau.
    Zweiundzwanzig Jahre.
    Ermordet in der Nacht vom 26. auf den 27. Mai 2008 in Garches.
    Jeanne betrachtete ihr Porträt. Ein gesundes, wenn auch zu stark geschminktes Gesicht. Eine Unschuldsmiene. Und nicht wenige Kilo Übergewicht ... Die Kripo hatte ihre Biographie rekonstruiert. Geboren in Nancy als drittes von fünf Kindern. Der Vater Keramiker, die Mutter Beamtin. Abitur im Jahr 2001. Ausbildung zur Krankenpflegekraft, anschließend Spezialisierung auf die Betreuung von Kindern mit schweren geistigen

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