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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Sie die Obduktion von François Taine abgeschlossen?«
    »Ich bin noch dabei.«
    Sie hatte richtig geraten: Sie waren eben dabei, ihren Freund zu obduzieren. Vor ihrem inneren Auge erschienen die beiden Gestalten, die im brennenden Zwischengeschoss miteinander rangen.
    »Haben Sie Spuren eines Kampfes entdeckt?«
    »Sie machen wohl Scherze! Das, was von François Taine übrig ist, liegt hier vor mir. Ich versichere Ihnen, dass hier keinerlei Spuren mehr zu finden sind. Taines Körper hat sich in Holzkohle verwandelt.«
    Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Seit sie aufgewacht war, lagen ihre Nerven blank, aber jetzt ... Sie schnüffelte. Dann sagte sie mit fester Stimme:
    »Gibt es denn keinerlei Anhaltspunkte dafür, was vor dem Brand geschehen ist?«
    »Man merkt, dass Sie nicht besonders viel von Verbrennungsprozessen verstehen. Als die Feuerwehrleute die Leiche geborgen haben, war Taine bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Unter der Einwirkung der Hitze schwillt der Körper an, bis die Haut platzt. Haben Sie schon mal ein Hähnchen im Backofen gebraten?«
    »Doktor, Sie sprechen von meinem Freund.«
    »François war auch mein Freund. Trotzdem ist er aufgeplatzt wie ein Würstchen.«
    Jeanne schwieg. Der Arzt fuhr fort:
    »Um die genaue Todesursache festzustellen, muss ich ihn aufschneiden. Eine Kohlenmonoxidvergiftung zeigt sich an der rötlichen Verfärbung von Organen. Hoffen wir, dass er erstickt ist und dass er die Flammen nicht gespürt hat.«
    Taine und der Unbekannte, die auf dem Verbindungsgang miteinander kämpfen, von den Flammen verschlungen. Sie kannte die Antwort bereits. Plötzlich – nichts deutete auf die geringste Vertraulichkeit hin – stieß der Rechtsmediziner hervor:
    »Nun, etwas ist seltsam.«
    »Was?«
    »Die Spuren einer Substanz auf der Leiche. Vor allem an den Händen und den Armen.«
    »Ein leicht entflammbares Produkt?«
    »Im Gegenteil.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Etwas Feuerfestes. Eine Art Lack oder Harz als Schutzüberzug.«
    Hatte François Taine eine feuerfeste Substanz verwendet? Langleber schien das Gleiche zu denken wie Jeanne:
    »Wenn er sich damit vor den Flammen schützen wollte, ist das gründlich danebengegangen. Die Arme sind genauso verkohlt wie der Rest.«
    »Haben Sie bereits Proben zur Analyse verschickt?«
    »Ja.«
    »An wen?«
    »Korowa, alles hat seine Grenzen.«
    »Geben Sie mir nur diese Information.«
    »Messaoud, den Leiter des Erkennungsdienstes.«
    »Danke, Doktor.«
    »Gern geschehen.«
    Bevor er auflegte, schob Jeanne rasch noch eine Frage nach:
    »Haben Sie Francesca Tercia obduziert?«
    »Ja, am Samstag.«
    »Sind Ihnen Unterschiede zu den anderen Leichen aufgefallen?«
    »Nein, abgesehen von der Tatsache, dass der Mistkerl mit seiner Arbeit nicht fertig wurde.«
    »Die Verletzungen und Verstümmelungen sind genau die gleichen?«
    »Ja, bis auf die Augen. Darüber haben wir ja schon gesprochen.«
    »Und daraus ergeben sich keinerlei Hinweise?«
    »Der wichtigste Anhaltspunkt besteht gerade darin, dass es immer das gleiche Muster ist. Wissen Sie, was Michel Foucault sagte? ›Im Rauschen der Wiederholung ereignet sich das Einmalige ...‹«
    Jeanne spürte, wie die Wut in ihr aufstieg. Sie dachte an Taine, den diese philosophischen Kommentare an Tatorten ebenfalls wahnsinnig machten. Mit leichter Verzögerung wurde ihr bewusst, dass sie an François gedacht hatte, als wäre er noch am Leben. Ihr Herz sank. Wie oft würde sie sein Bild noch in dieser Weise – lebendig, vertraut – heraufbeschwören, nur um anschließend von der Gewissheit seines Todes eingeholt zu werden? Foucault hatte Recht: »Im Rauschen der Wiederholung ereignet sich das Einmalige ...« Die Trauer.
    »Darf ich Ihnen nun meinerseits eine Frage stellen?«, sagte der Rechtsmediziner.
    »Ich höre.«
    »Was hatten Sie bei dem Brand zu suchen?«
    »Ich habe versucht, Taine zu retten.«
    Schweigen in der Leitung. Dann erklärte der Arzt, halb zynisch, halb resigniert:
    »Für Richter gibt es keine Medaillen. Rufen Sie mich nicht mehr an, Korowa. Es sei denn, Sie werden offiziell mit den Ermittlungen betraut.«
    Jeanne legte auf und wählte die Nummer von Ali Messaoud. Sie hatte ihren ersten Satz noch nicht beendet, als der Leiter des Erkennungsdienstes sie auch schon unterbrach:
    »Ist das ein Komplott, oder was? Reischenbach hat mich auch schon angerufen. Ich werde nur mit befugten Personen sprechen und ...«
    »Eine zehnjährige Freundschaft, genügt Ihnen das als

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