Im Wald der stummen Schreie
Entwicklungsstörungen. Im Jahr 2005 Umzug nach Paris, wo sie ein Praktikum am Bettelheim-Institut in Garches absolvierte. Erhielt zunächst einen einjährigen Arbeitsvertrag, dann eine unbefristete Anstellung am Institut.
Marion war eine mustergültige Krankenschwester. Und eine unauffällige junge Frau. Sie wohnte allein in einem Einzimmerappartement in der Nähe der Place d'Italie, Rue de Tolbiac, doch sie hatte einen Verlobten. Lucas Nguyen, siebenundzwanzig, gebürtiger Vietnamese, Lehrer. Vernommen, kam nicht als Täter in Betracht. Außerdem war Marion Cantelau begeisterte Krimileserin und leidenschaftliche Sporttaucherin (ein Hobby, dem sie ganzjährig im Schwimmbad nachging).
Jeanne blätterte die Vernehmungsprotokolle und die Aufzeichnungen der Kripo durch. Reischenbachs Männer hatten die letzten Lebenstage Marions akribisch rekonstruiert. Ihre Aufenthaltsorte. Ihre Internet-Zugriffe. Ihre Telefonate. Ihre Einkäufe. Kein Kontakt mit einem Unbekannten. Nicht der kleinste verdächtige Eintrag in ihrem Kalender.
Erneut betrachtete sie das Foto. Das Gesicht entsprach der Persönlichkeit. Lächelnd, pausbäckig, jugendlich. Eine fröhliche junge Frau – trotz ihres Übergewichts. Jeanne war eine Anekdote aufgefallen, die ihr gefiel. Farida Becker, eine achtundzwanzigjährige Kollegin von Marion, erzählte: »Sie war ein Schatz. Einmal plauderten wir Frauen in der Cafeteria über unsere Diäten. Eine schwor auf Ananas. Eine andere machte eine Eiweiß-Diät. Eine Dritte aß überhaupt nichts mehr. Als wir Marion fragten, was sie mache, antwortete sie: ›Ich? Ich trage Schwarz.‹ Sie hatte wirklich keine Komplexe!«
Jeanne lächelte. Sich in seiner Haut wohlfühlen. Heiraten. Umgehend Kinder kriegen. Und innerhalb des Instituts aufsteigen, in dem sie arbeitete. Klassisch, aber nicht übel. Vor allem nicht in den Augen Jeannes, die mit der Liebe und einfachen Affären ihre Not hatte. Ihr Lächeln erstarb. Dieser Wunschtraum hatte sich zerschlagen. Weil sich ein Psychopath mit archaischen Wahnideen Marion als rituelles Opfer ausgesucht hatte. Weshalb sie und nicht eine andere?
Sie dachte an Joachim. An seinen Autismus. An seine möglichen Verbindungen zum Bettelheim-Institut. Taine hatte es bereits überprüft: Es war unmöglich, dass ein autistischer Erwachsener als Kind in diesem Zentrum behandelt worden war, weil es dafür noch nicht lange genug bestand. Eine andere mögliche Verbindung waren die humanitären Aktivitäten des Rechtsanwalts. Hatte Marion Cantelau mit einer NGO zusammengearbeitet? Nichts in den Zeugenaussagen deutete darauf hin. Nicht die kleinste Reise, nicht das kleinste karitative Engagement. Joachim war auf andere Weise auf sie aufmerksam geworden. Wie?
Jeanne ging zum zweiten Fall über.
Nelly Barjac.
Achtundzwanzig Jahre.
Ermordet in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 2008 in Stains.
Viel attraktiver als Marion. Blond, blass, ein ebenmäßiges Gesicht. Trotz ihrer schweren Schultern eine durchscheinende, ätherische Schönheit. Auch Nelly war korpulent. So richtig. Bei einer Körpergröße von eins zweiundsiebzig wog sie laut Akte fünfundneunzig Kilo. Um ihre Schönheit zu würdigen, musste man daher das aktuelle Diktat der Schlankheit vergessen. Nelly Barjac war nicht für unser Zeitalter geschaffen. Sie wäre zu Zeiten von Rubens oder Courbet aufgeblüht.
Leider war Nelly auch eine moderne Frau. Sie empfand ihr Übergewicht als einen schändlichen Makel. Unter den Berichten fand Jeanne auch die Beschreibung ihrer Wohnung. Dort waren zahlreiche Schlankmacher entdeckt worden, Diätpillen, Zeitungsausschnitte – immer über das gleiche Thema: Wie kann man abnehmen, die Zellulitis besiegen? Laut Aussage der Personen, die ihr nahestanden, hatte sie nie über dieses Problem gesprochen. Dieser Kummer war ihr Geheimnis.
Nelly war hochbegabt. Mit siebzehn hatte sie das Abitur gemacht. Nach einem sechsjährigen Medizin-Studium hatte sie die landesweite Prüfung als eine der Besten bestanden und anschließend eine vierjährige Weiterbildung zur Zytogenetikerin absolviert, hauptsächlich am Necker-Klinikum. Dann hatte sie abwechselnd Praktika in zytogenetischen Labors und in Kliniken für Pädiatrie und medizinische Genetik gemacht. Im Jahr 2006 war sie schließlich bei den Laboratoires Pavois gelandet, was ihr ermöglichte, einerseits in ihrem gelernten Beruf zu arbeiten – und Karyogramme zu erstellen – und andererseits ihren Forschungen nachzugehen: statistische Arbeiten über die
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