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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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verschiedenen Menschenarten.
    Die Kripo hatte sorgfältig rekonstruiert, wie ihre letzten Lebenstage verlaufen waren. Seit ihrer Scheidung – nach nur zweijähriger Ehe mit einem Arzt – lebte Nelly Barjac einzig für ihre Arbeit. Sie kam um neun Uhr in die Firma. Sie verbrachte den ganzen Tag dort. Wenn alle anderen nach Hause gingen, wechselte sie das Stockwerk. Molekulare Genetik. Bis zehn oder elf. Oder Mitternacht. Sie übte gleichzeitig zwei Berufe in zwei verschiedenen Fachgebieten aus. Danach fuhr sie zu Bernard Pavois.
    Wo war eine solche Frau Joachim über den Weg gelaufen? Jeanne musste wieder an die humanitären Aktivitäten des Rechtsanwalts denken. Gab es einen Zusammenhang mit den statistischen Arbeiten Nellys? Hatte sie benachteiligte Bevölkerungsgruppen studiert, die von einer der NGOs, für die sich Joachim engagierte, betreut wurde? Jeanne glaubte nicht daran. Dennoch musste man diese Spur überprüfen.
    Sie wandte sich dem dritten Fall zu.
    Francesca Tercia.
    Vierunddreißig Jahre.
    Ermordet in der Nacht vom 6. auf den 7. Juni 2008 in Paris.
    Die Akte war sehr dünn. Die Ermittlungen hatten erst begonnen. Man wusste, dass sie in Buenos Aires geboren worden war, dass sie bildende Kunst und Anthropologie studiert hatte. Anschließend war sie nach Barcelona und dann nach Paris umgezogen. Man wusste nicht, ob sie einen Verlobten oder auch nur einen festen Partner in der Hauptstadt hatte.
    Jeanne blieb an ihrer Porträtaufnahme hängen. Auch Francesca war nicht unattraktiv. Ein südländisches, apartes Gesicht mit tiefschwarzen Brauen, die ihr ein tragisches Aussehen verliehen. Gewelltes schwarzes Haar. Eine seidige tintenschwarze Masse, die Männern gewiss Lust machte, sich darin zu vergraben ... Einziges Manko: Auch Francesca Tercia gehörte in die Kategorie der »Schwergewichte«. Jeanne erinnerte sich an den Körper, der im Atelier aufgehängt worden war. Ausladende Hüften. Dralles Gesäß. Ein Falten werfender Bauch.
    Das waren nicht Die drei Grazien , sondern Die drei Pummelchen ...
    Jeanne biss sich auf die Lippe. Solche bescheuerten Gedanken würden sie bestimmt nicht weiterbringen.
    Wie Nelly Barjac führte auch Francesca gewissermaßen zwei Leben. Tagsüber arbeitete sie im Atelier von Isabelle Vioti und fertigte naturgetreue Nachbildungen prähistorischer Menschen. Abends modellierte sie in einem Atelier, dessen Adresse noch unbekannt war, persönliche Werke. Ihr Privatleben schien nicht besonders aufregend zu sein.
    Welche Gemeinsamkeiten gab es mit Joachim? Francesca war Argentinierin. Joachim arbeitete mit NGOs, die in Lateinamerika tätig waren. Bestand da ein Zusammenhang? Waren sie sich in einer Botschaft in Paris begegnet?
    Jeanne legte die drei Porträtaufnahmen vor sich hin. Abgesehen vom Übergewicht gab es keine auffälligen Ähnlichkeiten. Vor kurzem hatte sie ein Buch über den »Auslösereiz« gelesen, der bei Mördern den Tatimpuls hervorrief. Im Allgemeinen handelte es sich um ein Detail, ein Merkmal, das als Initialzünder fungierte. Aber die Dinge lagen komplizierter. Mehrere weitere Bedingungen mussten erfüllt sein. Äußere und innere Umstände. Erst dann wurde der Tatimpuls übermächtig ...
    Jeanne sah sich vor allem mit einem Dilemma konfrontiert. Hatte der Mörder diese Frauen wegen ihres Aussehens oder wegen ihres Berufes ausgewählt? Jedes Mal interessierte sich der Mörder für die Umgebung der Opfer. Autismus, Fruchtbarkeit, Vorgeschichte ... Jeanne hörte wieder Taines Stimme: Er wählt sie nicht zufällig aus. Ganz und gar nicht. Er hat einen Plan!
    Sie dachte noch einmal über diese Frage nach. Es stand außer Frage, dass diese Verbrechen geplant waren. Aber Joachim mordete, wenn er einen Anfall hatte, und erinnerte sich später nicht an diese »schwarzen Löcher«. Wer also wählte die Opfer aus? Wer bereitete alles vor?
    Ihr Handy vibrierte. Jeanne sah instinktiv auf ihre Uhr. Fast 18.00 Uhr. Sie hob ab. Reischenbach.
    »Wie steht's bei dir?«
    »Ich bin ausgebootet. Man lässt mich weder in den Mordfällen noch bei der Brandstiftung ermitteln.«
    »Willkommen im Klub. Man hat mir den Kannibalen-Fall entzogen. Ein anderes Team, das dem Polizeipräsidenten nähersteht, kümmert sich jetzt darum. Etwa dreißig Polizisten sollen dafür abgestellt worden sein. Was die Ermordung Taines anlangt, haben sich der Inlandsgeheimdienst und das Dezernat Interne Ermittlungen daraufgestürzt wie ein Geier aufs Aas.«
    »Du meinst: Wie der Teufel auf die armen

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