Im Wald der stummen Schreie
Seelen?«
»Genau«, antwortete Reischenbach mit zusammengebissenen Zähnen. »Was willst du tun?«
»Ich habe mich beurlauben lassen, um den Fall allein zu bearbeiten. Machst du mit?«
»Ich weiß nicht, wie ich dir helfen könnte. Ohne offizielle Zuständigkeit sind mir die Hände gebunden.«
»Dann mach es so wie ich. Lass deine rechte Hand nicht wissen, was deine linke tut.«
»Was soll ich tun?«
»Ich habe alle Akten über die Opfer gelesen. Gute Arbeit, aber nicht ausreichend.«
»Wo würdest du nachbohren?«
»Wir müssen herausfinden, wie der Mörder seine Opfer ausfindig macht. Er ist ihnen irgendwo begegnet. Und ich vermute, dass es jedes Mal der gleiche Ort ist. Ein Ort, der etwas mit ihrem Beruf, ihren Gewohnheiten oder ihrem Aussehen zu tun hat.«
»Vielleicht bei den Weight Watchers?«
»Sehr witzig. Nimm noch einmal ihre Terminkalender, ihre Gewohnheiten und Bekannten unter die Lupe. Überprüf ihren Friseur, ihr Fitness-Studio, ihren Gynäkologen, ihre Bus- oder Metrolinien, ihre ...«
»Du hast mich offenbar nicht verstanden. Ich habe weder die Zeit noch die Leute. Ich ...«
»Lass dir was einfallen. Lass diese Nachforschungen unter einem anderen Fall laufen.«
»Das ist nicht so einfach.«
»Patrick, wir haben es hier mit einem Serienmörder zu tun. Ein Irrer, der weitermachen wird und der zweifellos François Taine auf dem Gewissen hat.«
Erneutes Schweigen.
»Du gehst das Problem vielleicht verkehrt herum an«, sagte Reischenbach schließlich. »Wir wissen, dass die Arbeit dieser Frauen den Mörder interessiert. Vielleicht hat er diese ›vielversprechenden‹ Orte überwacht – das Bettelheim-Institut, die Laboratoires Pavois, das Atelier Vioti – und sich dann unter den Mitarbeitern rundliche junge Frauen ausgesucht.«
»Das ist eine Möglichkeit. Aber als ich deine Protokolle las, ist mir etwas aufgegangen. Er kannte diese Frauen persönlich.«
»Was?«
»Bei ihnen wurde weder eingebrochen noch wurden sie tätlich angegriffen. Beim ersten Opfer gibt es keinerlei Hinweise auf einen Kampf in der Tiefgarage. Beim zweiten Mordfall fällt auf, dass die Laboratoires Pavois eine echte Festung sind. Man kann dort unmöglich eindringen, ohne Spuren zu hinterlassen. Nelly Barjac hat spätabends ihren Mörder empfangen und ihm die Räumlichkeiten gezeigt. So viel ist sicher. Beim Atelier Vioti ist es die gleiche Geschichte. Kein Hinweis auf einen Einbruch. Francesca hat den Mörder spätabends ohne den geringsten Argwohn hereingelassen. Sie erwartete ihn.«
»Wir haben ihre Anrufe überprüft – eingehende und ausgehende. Wir haben die drei Listen verglichen. Keine gemeinsame Nummer.«
»Der Mörder nimmt auf andere Weise Kontakt mit ihnen auf. Er ist ihnen irgendwo, an einem ganz bestimmten Ort, begegnet. Setz deine Leute darauf an, Patrick!«
»Ich werde sehen, was sich machen lässt.«
Jeanne spürte, dass sie eine Bresche geschlagen hatte. Etwas ruhiger fuhr sie fort:
»Bist du bei Francesca Tercia weitergekommen?«
»Wir sind zu ihr gefahren. Sie hat ein großes Atelier in Montreuil.«
»Soll das heißen, dass sie ihre persönlichen Werke bei sich zu Hause anfertigt?«
»Ja.«
»Wie sind ihre Skulpturen?«
»Düster. Folterszenen. Ich werde dir die Fotos zeigen.«
»Sonst nichts Auffälliges?«
»Nein. Aber ich habe den Eindruck, dass sie ausziehen wollte.«
»Wieso?«
»Ihr Loft erstreckt sich über zwei Etagen. Unten befindet sich das Atelier, oben die Wohnung. Auf den Möbeln standen Zahlen. Tatsächlich immer die gleiche.«
»Welche Zahl?«
»50. Mit einem Filzstift auf Haftnotizen geschrieben, die auf den Schränken, auf dem Kühlschrank und den Spiegeln im Bad kleben. Überall die gleiche Zahl, 50. Erst haben wir das nicht kapiert. Und dann kamen wir auf die Idee mit dem Umzug. Zweifellos eine Markierung für den Lagerraum.«
Jeanne hatte bereits verstanden. Sie fragte:
»Sind in deinem Team Frauen?«
»Nein.«
»Du solltest eine oder zwei engagieren.«
»Wieso?«
»Hast du den Obduktionsbericht von Francesca?«
»Vor mir.«
»Wie groß war sie?«
»Eins siebenundfünfzig.«
»Ihr Gewicht?«
»Achtundsechzig Kilo laut Aussage des Rechtsmediziners. Wozu diese Fragen?«
»Weil Francesca Diät hielt. Fünfzig ist das Gewicht, das sie erreichen wollte. Sie hat es überall hingeschrieben, um sich zu motivieren. Die Zahl auf dem Kühlschrank beispielsweise ist eine Mahnung. So verkneift man sich das Schnabulieren zwischendurch.«
»Was redest du da
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