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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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mich gleich ans Werk.«
    Michel Brune packte seine Werkzeuge aus. Er trug seinen Arbeitsanzug, der mit dem Logo seiner Firma versehen war: Kryos Serrures. Jeanne sah ihm mit verschränkten Armen zu.
    Sie standen vor der Eingangstür zur Praxis von Antoine Féraud. Es war 21.00 Uhr.
    Brune war kein gewöhnlicher Schlosser. Jeanne hatte ihn in ihrem Büro im Gerichtsgebäude kennengelernt, als ihm mehrfacher Diebstahl zur Last gelegt wurde. Der Sechsundzwanzigjährige hatte die schlechte Angewohnheit, die Doppel der Schlüssel zu behalten, die er tagsüber anfertigte. Anschließend sammelte er seine Beute ein. BHs, schmutzige Schlüpfer, Ausgaben von National Geographic , Kugelschreiber ... Jeanne war aufgefallen, dass es sich um Bagatell-Diebstähle handelte. Und vor allem war ihr bei dem Kleptomanen eine einzigartige Begabung für das Öffnen von Schlössern aufgefallen. Ein solcher Experte konnte ihr von Nutzen sein. Sie hatte ihm eine Gerichtsverhandlung erspart und ihn wieder auf freien Fuß gesetzt. Doch sie hatte seine Akte behalten. Seither rief sie ihn gelegentlich an. Für illegale Durchsuchungen.
    »Geschafft.«
    Das Schloss in der Tür zur Praxis war entriegelt. Jeanne spürte, wie die Kälte des Marmors in ihren Körper eindrang. Die Schwelle war überschritten. Zu spät, um auf den Boden der Legalität zurückzukehren.
    Brune drückte die Tür auf und scherzte:
    »Wenn Sie weggehen, vergessen Sie nicht, die Tür wieder zu schließen.«
    Jeanne streifte sich Latexhandschuhe über und drang in die Finsternis vor. In der Wohnung war es viel wärmer als draußen. Behutsam machte sie die Tür zu. Schaltete die Taschenlampe an. Blendete den Lichtkegel mit schräg vorgehaltener Hand ab, damit man ihn nicht durch die Fenster sah. Die Wohnung war in Dunkelheit und Schweigen gehüllt.
    Von dem Korridor ging zunächst linker Hand ein kleines Zimmer ab. Das Wartezimmer. Weiße Wände. Altmodische Zierleisten. Lackiertes Parkett. Einige Stühle. Bücher auf einem niedrigen Tisch. Keine Illustrierten, sondern Ausstellungskataloge, Monographien. Ein Intellektueller. Sie ging weiter und fand rechter Hand eine geschlossene Tür. Sie öffnete sie und betrat das Behandlungszimmer. Das abgehörte Zimmer.
    Es war ungefähr so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Etwa dreißig Quadratmeter groß. Rechts eine Bücherwand. In der Mitte des Zimmers, vor einem Fenster, ein schräg stehender Schreibtisch. Zwei Sessel und rechts die Couch, bezogen mit einer ockerfarbenen Reisedecke. Auf dem Parkettboden lag ein roter Teppich. Ein ebenfalls rotes Schultertuch peruanischer Machart hing an der Wand über dem Sofa. Sie dachte an den Satz von Ingmar Bergman, als er seinen Film Schreie und Flüstern vorstellte: »Seit meiner Kindheit habe ich mir das Innere der Seele immer als eine feuchte Haut in roten Farbtönen vorgestellt.« Sie befand sich im Zimmer der Seele. Aus den Wänden glaubte sie das Wispern von Stimmen zu hören, die sich hier erhoben hatten ...
    Sie ging hinter den Schreibtisch. Begann mit der Durchsuchung. Ein Block mit weißen Blättern. Nippes. Stifte. Kein Terminkalender. Keine Notizen. Keine Namen. Sie zog die Schublade auf. Ein Rezeptblock. Ein Vidal – das französische Lexikon der Medikamente. Ein Diagnostic and Statistical Manual – das amerikanische Standardwerk über die Klassifikation psychischer Störungen. Kein Detail, das die Patienten betraf.
    Sie hatte eine Idee. Das war die Gelegenheit, um das vom SIAT angebrachte Mikrofon zu entfernen. Sie drehte sich um und blickte zur Gardinenstange empor. Die Techniker verfuhren immer nach der gleichen Methode. Sie zog einen Stuhl heran, griff nach einem Brieföffner, stieg auf den Stuhl. Da war die Wanze, eingelassen in die Wand, über dem Fensterstock. Ein Hieb mit der Klinge, und das Mikrofon fiel ihr in die Hand.
    Jeanne bemerkte eine zweite Tür, bei der Bücherwand. Sie näherte sich. Das Große Los. Ein etwa fünf Quadratmeter großes Gelass, das Férauds Archiv enthielt. Einfache Regale, auf denen Akten lagen, die mit handgeschriebenen Blättern gefüllt waren. Der Psychiater arbeitete auf altmodische Art. Sie zog wahllos eine Aktenmappe heraus. Féraud legte für jeden Patienten eine Akte an, die er mit dem Namen, den Vornamen und der Adresse beschriftete. Im Lauf der Sitzungen machte er sich dann Aufzeichnungen. Genau das, was sie suchte.
    Sie musste sämtliche Akten von Patienten mit spanisch klingenden Namen herausfischen, deren Alter in etwa dem des

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