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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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unerschütterliche Heiterkeit.
    »Viele autistische Kinder werden mit dieser Krankheit geboren. Das Leben hat sie also nicht beeinflussen können. Abgesehen von pränatalen Einflüssen auf die intrauterine Entwicklung. Da sind wir bei den Theorien von Bruno Bettelheim.«
    »Dem Namensgeber Ihres Instituts?«
    Die Direktorin antwortete nicht. Sie ließ das Mädchen auf die Wasseroberfläche gleiten. Trotz der Sanftheit der Bewegung war dieser blasse Körper mit den gelben Schwimmflügeln in dem türkisfarbigen Wasser ein schwer erträglicher Anblick. Die gebleckten Zähne, das Zahnfleisch in der Farbe roter Rüben, der ausgemergelte Körper ... Eine Krankenschwester, die soeben ins Becken gestiegen war, löste Garaudy ab und führte das Kind zu anderen Pflegekräften, die am Beckenrand warteten.
    Hélène Garaudy verließ das Wasser mit einem Klimmzug, nur wenige Meter von Jeanne entfernt. Sie hatte die Figur einer Libelle, einen wohlgeformten Hintern.
    »Kommen Sie«, sagte sie und griff nach einem Handtuch und einer Leinentasche, die auf dem Boden lagen. »Setzen wir uns in die Sonne. Ich habe eine halbe Stunde Mittagspause. Ich lade Sie zum Essen ein.«
    Hinter den großen Glasfenstern erstreckten sich glatte, leuchtend grüne Rasenflächen, auf denen weiße Marmorblöcke wie zeitgenössische Skulpturen standen. Diese Gärten atmeten die Ruhe eines römischen Atriums.
    Jeanne rechnete damit, dass die Direktorin einen weißen Schwesternkittel überziehen würde, aber Hélène legte nur ihre Badekappe ab und behielt ihren Badeanzug an. Sie trug einen schlichten Haarknoten. Ihr Nacken wies die leicht bedrohliche Krümmung eines gespannten Bogens auf.
    Die Frau zog eine Schachtel Marlboro aus ihrer Tasche und zündete sich eine Zigarette an, wobei sie einen kurzen Blick auf das Kind warf. Die Pflegekräfte holten es vorsichtig aus dem Becken und setzten es in einen Rollstuhl.
    »Wir müssen gut auf sie aufpassen. Das Baden beruhigt sie, aber ...«
    »Ist sie gefährlich?«
    Ohne die Gruppe aus den Augen zu lassen, stieß Garaudy eine Rauchfahne aus.
    »Ihr Vater hat sie mit Hunden aufgezogen. Tatsächlich hat er sich viel intensiver um seine Hunde gekümmert als um seine Tochter. Als sie zu uns kam, hat sie die Tiere nachgeahmt, in der Hoffnung, auf diese Weise eine Vorzugsbehandlung zu erhalten. Als sie begriff, dass wir nicht Tiere, sondern Menschen behandeln, hat sie begonnen, Hunde zu hassen und entwickelte einen Mordsbammel vor ihnen. Was sie in einen schrecklichen inneren Konflikt gestürzt hat.«
    »Wieso?«
    »Weil ein Teil von ihr in gewisser Weise ein Hund geblieben ist.«
    Die Krankenpfleger führten das Kind jetzt ins Hauptgebäude. Einer der Betreuer nahm ihm die Badekappe ab. Langes fahlgelbes Haar funkelte in der Sonne. Jeanne hatte den Eindruck, dass sich ihre animalische Seite enthüllte.
    »Kommen Sie. Setzen Sie sich.«
    Die Blöcke waren nicht aus Marmor, sondern aus bemaltem Beton. Am Fuß einer dieser Sitzgelegenheiten stand eine Kühltasche im Schatten. Hélène öffnete sie und zog eine kleine Flasche heraus.
    »Coca light?«
    »Ist das unser Mittagessen?«
    »Alles für die Linie!«
    Jeanne griff nach der kleinen Flasche. Unter ihren Fingern spürte sie eiskalte Tropfen.
    Ein markerschütternder Schrei erschallte aus dem Gebäude. Jeanne zuckte zusammen. Sie hatte den Eindruck, dass die geschlossene, unergründliche, rätselhafte Welt des Autismus von dem weißen Gebäude symbolisiert wurde, das im Sonnenlicht flirrte.
    Die Leiterin, eine Zigarette im Mund, öffnete eine zweite Flasche. Sie schien nichts gehört zu haben. Jede ihrer Gesten wirkte feinfühlig und zugleich desillusioniert.
    »Wir sprachen von Bruno Bettelheim ...«, nahm Jeanne den Gesprächsfaden wieder auf.
    »Ja. Kennen Sie sein Werk?«
    »Oberflächlich. Hat er nicht Kinder brauchen Märchen geschrieben?«
    »Er hat vor allem über Autismus gearbeitet. Er war ein Psychiater aus Wien, der sich in den Vereinigten Staaten niedergelassen hat. Auf dem Campus der Universität Chicago hat er ein Institut, die Orthogenic School, gegründet. 1938 war er deportiert worden, weil er Jude war. In den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald hat er seine Methode zur Behandlung autistischer Kinder entwickelt.«
    »Wie das?«
    »Durch systematische Beobachtung anderer Gefangener. Ihm war aufgefallen, dass sich die Deportierten in sich selbst zurückzogen, um sich gegen dieses zutiefst zerstörerische Umfeld zu schützen. Als er später mit

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