Im Wald der stummen Schreie
Nachricht von der Ermordung Francesca Tercias hat die übliche Welle anonymer Zeugenaussagen und spontaner Geständnisse ausgelöst. Dabei steht uns das Schlimmste wohl noch bevor.«
»Und die Ermittlungen im Mordfall Tercia?«
»Du bist wirklich ein Dickschädel. Ich hab dir doch schon gesagt, dass die Sache im Moment ruht. Wir haben aufgehört ...«
»Einbrüche in Museen? Irgendwelche Vorfälle in prähistorischen Sammlungen?«
»Ich habe Anfragen laufen. Bis jetzt noch keine Antworten. Und ...« Reischenbach schien sich an etwas zu erinnern. »Warte ... Ich hab etwas für dich ...« Jeanne hörte Papier rascheln. »Da ist es. Messaoud hat mir heute Morgen einen Bericht geschickt. Er wusste nicht, wem er ihn zukommen lassen sollte ... Er hat die Ergebnisse der Analyse der Ockerfarbe bekommen, die der Mörder mit dem Rest vermengt hat, um auf die Wände zu schreiben. Es ist gar kein Ocker, sondern ... Warte.« Jeanne hörte wieder, wie er in seinen Unterlagen wühlte. »Urucum.«
»Was ist das?«
»Eine Pflanze aus dem brasilianischen Amazonasgebiet. Messaoud hat einen Spezialisten angerufen. Offenbar zermahlen die Indios die Samen dieser Pflanze zu Pulver und reiben sich den Körper damit ein, zum Schutz gegen Sonnenbrand und zur Abwehr von Insekten. Aus diesem Grund haben die Portugiesen sie im 16. Jahrhundert ›Rothäute‹ genannt.«
»Wird dieser Pflanze eine magische Kraft oder eine symbolische Bedeutung zugeschrieben?«
»Keine Ahnung. Messaoud hat ein kurzes Resümee geschrieben.« Der Polizist suchte wieder. »Hier. Sie ist sehr reich an Beta-Karotin. Frag mich nicht, was das ist. Außerdem enthält sie Spurenelemente: Zink, Magnesium, Selen ... Heute wird Urucum zur Herstellung gewisser Bio-Produkte wie Sonnenschutzmittel benutzt.«
Jeanne ließ sich den gebräuchlichen Namen und auch die wissenschaftliche Bezeichnung buchstabieren: Bixa orellana.
»Das könnte uns etwas über die Herkunft des Täters verraten«, meinte der Polizist, »zumindest über die Gebiete, die er bereist hat.«
Diese neue Erkenntnis bestärkte sie in dem Verdacht, dass die Morde etwas mit Lateinamerika zu tun hatten. Aber das war ein riesiges Gebiet: Zwischen Managua in Nicaragua, Buenos Aires in Argentinien und Manaus in Brasilien lagen mehrere Tausend Kilometer ...
Jeanne fragte sich, ob diese Indizien echte Fortschritte darstellten oder sie auf eine falsche Fährte führten. Nur eines war gewiss: Der alte Mann und sein Sohn stammten nicht aus Brasilien. Sie kannte diese Länder gut genug, um einen spanischen Akzent von einem portugiesischen unterscheiden zu können. Und als das Monster im Innern von Joachim das Lied Porque te vas summte, tat es dies in perfektem Spanisch.
Diese Überlegung rief ihr den Horror des Vorabends noch einmal in Erinnerung. Ihre Füße auf dem Gesims. Und die Stimme in ihrem Rücken, die im gesamten Hof widerhallte: Todas las promesas de mi amor se irán contigo / Me olvidarás ...
»Hallo, hörst du mir zu?«
»Was hast du gesagt?«
»Ich hab gesagt, dass heute Abend Schluss ist. Die Kripo ist keine Detektei ...«
»Okay!«
31
»Autismus ist heute ein Oberbegriff für verschiedene Krankheiten, die sich im Großen und Ganzen durch die gleichen Symptome manifestieren. Stummheit. Realitätsflucht. Lernschwierigkeiten ... Der Begriff ›Autismus‹ bezeichnet eher eine Vielzahl von Symptomen als eine bestimmte Erkrankung, keine Ursache, sondern Krankheitsfolgen, verstehen Sie?«
Jeanne antwortete nicht. Was sie nicht verstand, war ihre augenblickliche Situation. In einem T-Shirt, längsgestreifter Hose und mit nackten Füßen saß sie am Rand eines Schwimmbeckens im Hallenbad des Bettelheim-Instituts. Hélène Garaudy, die Leiterin des Instituts, hatte sich bereit erklärt, sie zu empfangen, unter der Bedingung, dass sie sich ihrem Terminplan fügte. Im Moment badete sie ein sechs- oder siebenjähriges Kind mit steifem Körper.
Hélène Garaudy stützte das Mädchen mit einem Arm und goss mit der anderen Hand Wasser auf seine Stirn.
»Alles wird noch unübersichtlicher dadurch, dass sich die Spezialisten selbst weder über die Klassifikation der Krankheiten noch über die Beschreibung der Symptome einig sind. Und noch weniger über ihre Ursachen. Was die Therapie betrifft, hat jeder seine eigene Idee ...«
Jeanne versuchte sich zu konzentrieren, aber die chlorhaltigen Ausdünstungen, das blau geflieste Becken, der Widerhall der Worte – alles trug dazu bei, sie abzulenken.
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