Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
Vom Netzwerk:
zweifellos das erste autistische Kind, das so sorgfältig beobachtet wurde.«
    »Sind die Jahre, die er im Wald gelebt hat, die Ursache für seine Stummheit?«
    »Es gibt mehrere Hypothesen. Itard war der Auffassung, dass der Zustand Victors auf den fehlenden Kontakt mit Menschen und die fehlende Erziehung zurückzuführen war. Aber dann kam ein alternativer, ja entgegengesetzter Erklärungsansatz auf. Danach war Victor von Geburt an autistisch. Aus diesem Grund wurde er im Wald ausgesetzt. Der Autismus wäre die Ursache für die Aussetzung und nicht umgekehrt.«
    Ein Satz hallte in Jeannes Kopf wider: Der Wald, er beißt dich. War Joachim in einem Wald ausgesetzt worden? War er als Autist zur Welt gekommen? Oder war er autistisch geworden, weil er ausgesetzt worden war? Jeanne streifte die Wahrheit – aber sie hielt nichts in Händen.
    »Heute nimmt man an, dass alle berühmten Wolfskinder autistisch waren. Bettelheim hat darüber geschrieben. Seiner Meinung nach haben die Wolfskinder in der Natur ihre intellektuellen Fähigkeiten nicht verloren: Sie waren niemals vorhanden. Aber es ist so schwer zuzugeben, dass ein Kind auf einem so archaischen Entwicklungsstand verharrt, dass man lieber Märchen von der angeblichen Adoption durch Affen oder Wölfe erfunden hat ... so vor allem bei Amala und Kamala, zwei berühmten indischen Wolfsmädchen aus Midnapur, die von Reverend Singh in den dreißiger Jahren beschrieben wurden. Heute wissen wir, dass diese Mädchen autistisch waren. Ihr Trübsinn, ihre Grobheit und Primitivität wurden gleichgesetzt mit einem Rückfall in den animalischen Zustand. Tatsächlich wurden sie wohl wegen ihrer Behinderungen ausgestoßen ...«
    Jeanne hätte gern ihre Hypothese von einem schizophrenen Mann mit zwei Persönlichkeiten, von denen eine autistisch war, dargelegt. Ein von der Außenwelt abgeschnittenes Kind im Innern eines zivilisierten Mannes. Aber sie ahnte schon, dass Garaudy genauso reagieren würde wie Bernard Level, der Profiler: absurd.
    Sie kam auf die handfesten Fakten des Falles zurück:
    »Gewisse Details an den Tatorten lassen uns vermuten, dass der Mörder an Autismus leidet.«
    »Das ist lächerlich. Diese Krankheit ...«
    »Das habe ich schon gehört. Aber was halten Sie davon?«
    Jeanne zog Aufnahmen von den blutigen Handabdrücken aus ihrer Tasche. Die Bilder glänzten in der Sonne so stark, dass sie zu brennen schienen. Die Institutsleiterin betrachtete die Abzüge ruhig und unerschütterlich. Eine Person von ungewöhnlicher Charakterstärke, dachte Jeanne, ohne dass es ihr gelang, deren Wesen oder Ursprung zu identifizieren.
    »Sind das die Aufnahmen vom Tatort, an dem Marion ermordet wurde?«
    »Ja, aber an den beiden anderen Tatorten finden sich ähnliche Abdrücke.«
    »Na und?«
    »Man sieht deutlich, dass der Mörder, zweifellos auf allen vieren, die Leiche umkreist. Seine Hände sind zu den Füßen hin gedreht. Das könnte, wie ich gehört habe, auf eine autistische Erkrankung hindeuten.«
    »Und noch auf vieles andere. Ist das alles, was Sie haben?«
    Jeanne hätte beinahe die metallene Stimme des kindlichen Monsters erwähnt. Seine Unfähigkeit, »ich« zu sagen. Die Litanei von Porque te vas ... Aber dann hätte sie erklären müssen, woher sie diese Indizien kannte.
    »Was halten Sie von diesen Zeichnungen?«, fragte sie, während sie der Leiterin Fotos der blutigen Schriftzüge zeigte. »Könnten sie von einem Autisten stammen?«
    »Ja.«
    Jeanne erstarrte. Wieder einmal hatte sie blindlings einen Köder ausgeworfen. Wieder hatte jemand angebissen.
    »Erklären Sie mir das.«
    »Ich habe schon oft solche Bilderschriften gesehen ... Die Wiederholung der Motive. Die Anordnung der Zeichen. Es könnte sich um eine der Chiffreschriften handeln, die Autisten manchmal erfinden.«
    »Was könnten diese Zeichen bedeuten?«
    »Meist haben sie in erster Linie Schutzfunktion.«
    »Schutz?«
    »Wenn die Zeichnungen so angeordnet sind wie hier, dienen sie als eine Art Schutzwall. Fresken und Zierstreifen, die als Grenze fungieren. Bettelheim hat den Fall eines kleinen Mädchens namens Laurie beschrieben, das mit Obstschalen eine ›Grenze‹ errichtete. Es ahmte Sinuswellen nahezu perfekt nach.«
    »Glauben Sie, dass der Mörder auf diese Weise die Opferstelle abschirmen wollte?«
    »Vielleicht. Seine Welt, in gewisser Weise.«
    Hélène Garaudy sah auf ihre Uhr. Die Mittagspause war vorüber. Jeanne schob eine letzte Frage nach:
    »Könnte es irgendeinen Zusammenhang

Weitere Kostenlose Bücher