Im Wald der stummen Schreie
zwischen Autismus und Kannibalismus geben?«
»Sie sind wirklich stur«, sagte die Psychiaterin gereizt. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass der Mörder nicht an dieser Erkrankung leiden kann.«
»Aber könnte eine Verbindung zwischen diesen beiden Pathologien bestehen?«
»In gewisser Hinsicht«, räumte Garaudy ein. »Aber nur in Bezug auf sexuelle Phantasien. Zahlreiche Psychoanalytiker wie etwa Melanie Klein haben in den dreißiger Jahren beobachtet, dass der Sexualtrieb der Autisten aggressive Tendenzen aufweist.«
»Bis hin zum Kannibalismus?«
»Ja, die Phantasien können bis zum Verschlingen gehen. Aber, noch einmal, der Mörder, den Sie suchen, kann kein Autist sein. Diese Krankheit ist nicht nur mit einer körperlichen Behinderung, sondern auch mit echten geistigen Defiziten verbunden.«
Hélène Garaudy gab Jeanne die Fotos zurück und stand auf.
»Tut mir leid«, sagte sie, nach ihrer Tasche greifend. »Ich muss wieder an die Arbeit.«
Jeanne folgte ihr auf den Fuß. Sie gingen über den Rasen, betraten das Gebäude und stiegen eine Treppe hinunter, die zur Garderobe führte. Die kühle Luft aus der Klimaanlage schlug ihr entgegen. Jeanne hatte das Gefühl, in einen Spiegel aus Eis hineinzugehen.
»Sie schaffen es nie, die Anlage richtig einzustellen ...«, murmelte Garaudy.
Sie steuerte einen der Spinde an, die sich an der Wand aneinanderreihten. Sie öffnete ihn, zog ohne die geringste Scham ihren Badeanzug aus und schlüpfte dann in schwarze Boxershorts und einen gleichfarbigen BH.
Dann richtete sie sich auf, warf einen prüfenden Blick auf Jeanne und fragte:
»Was für ein Material ist das, diese Hemdbluse?«
Jeanne trug eine sehr leichte, durchsichtige schwarze Baumwollbluse, unter der man deutlich die Umrisse ihres extrafeinen BHs erkannte. In dem sachlichen Ton eines Minenräumers, der die Bauteile einer Bombe vorführt, antwortete sie:
»Feinmaschige Baumwolle, von Joseph.«
»Das macht die Männer bestimmt rasend, oder?«
Sie lachten. Jeanne konnte sich gut vorstellen, mit dieser Frau einmal zum Brunch zu gehen. Ein bisschen albern über die Männer ablästern. Doch da nahm Hélène Garaudy einen schwarzen Kittel, einen weißen Kragen, einen Schleier aus dem Schrank.
Jeanne war sprachlos. Die Psychiaterin war eine Nonne. Dies erklärte ihren Gleichmut angesichts der barbarischen Ermordung von Marion Cantelau. Die allumfassende Kraft des Glaubens.
»Ich stelle Ihnen Schwester Hélène vor«, sagte sie, eine Verbeugung andeutend. »Vom Orden der Karmeliterinnen von Sion. Das Bettelheim-Institut ist zur Hälfte in kirchlichem Besitz. Und wie Sie feststellen konnten, hat diese Hälfte das Sagen.«
Jeanne war so verdutzt, dass sie nicht antworten konnte.
»Der Schein trügt«, schmunzelte die Schwester, »insbesondere, wenn es der nackte Anschein ist ...«
32
»Es stinkt, oder?«
Jeanne nickte. Sie stand vor einem der verglasten Gebäude der Laboratoires Pavois.
Als sie sich am Empfang angemeldet hatte, hatte Bernard Pavois sie persönlich abgeholt und nach draußen geführt. Sie fragte sich, wieso.
Ein schwerer, stechender, metallischer Geruch hing in der Luft.
»Das sind die Fabriken von Saint-Denis«, erklärte der Hüne. »Relikte der großen industriellen Entwicklung des Departements. Wissen Sie, weshalb seit dem Ende des 19. Jahrhunderts so viele Fabriken im Departement Seine-Saint-Denis errichtet wurden?«
»Nein.«
»Wegen der allgemeinen Windverhältnisse. Die Pariser – die Kapitalisten – wollten sichergehen, dass die Abgase aus den Fabrikschornsteinen nicht Richtung Hauptstadt zogen. Und vor allem nicht nach Westen, wo die schicken Viertel gebaut wurden. Als ich Kind war, hatte Saint-Gobain seine Werke noch in Aubervilliers. Sie stießen stinkende Schwefeldämpfe aus. Daneben befanden sich Fabriken, in denen die Schlachtabfälle aus den Schlachthöfen in La Villette verbrannt wurden. Damals sagte man nicht ›Es riecht nach Schwefel.‹ oder ›Es stinkt nach Tod.‹ Man sagte: ›Es riecht nach Aubervilliers.‹«
»Wurden Sie in dem Departement geboren?«
»In Bondy.«
Jeanne drehte sich um und betrachtete das lange Gebäude aus Beton und Glas. Tausende von Quadratmetern für die naturwissenschaftliche Forschung. Vier Stockwerke mit sterilen Räumen, Computern und Forschern in weißen Kitteln. Der sichtbare Beweis für den Erfolg von Bernard Pavois. Eine völlig aseptische gentechnologische Forschungsstätte mitten in einem sozialschwachen
Weitere Kostenlose Bücher