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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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autistischen Kindern arbeitete, vermutete er, dass diese Kinder die Außenwelt in der gleichen Weise als eine unüberwindliche Bedrohung wahrnehmen. Eine erfolgreiche Behandlung erfordere daher, dass man ein Umfeld schaffe, das das genaue Gegenteil von einer Bedrohung sei. Ein hundertprozentig positives Umfeld, in dem sie sich öffnen und ihre Angst ablegen könnten, um den psychischen Prozess der Abkapselung zu überwinden ...«
    »Hat er diese Methode in seinem Institut angewandt?«
    »In seinem Institut war jedes Detail in diesem Sinne gestaltet. Die Farbe der Vorhänge und der Wände. Die Anordnung der Möbel. Die Statuen in den Gärten. Die Bonbons in den Wandschränken, die immer griffbereit waren. Die offenen Türen. Problematisch wurde es erst, als er den Eltern untersagte, ihre Kinder zu besuchen.«
    »Sah er in ihnen eine Bedrohung?«
    »Aus der Perspektive des Kindes auf jeden Fall. Das ist der Kern von Bettelheims Theorie. Für ihn ist der Autismus die Folge einer – realen oder eingebildeten – Ablehnung, die das Kind zutiefst verstört. Ein Schutzmechanismus.«
    Eine Erinnerung blitzte in Jeanne auf. Zu den Büchern, die sie bei Antoine Féraud gefunden hatte, gehörte The Empty Fortress von Bruno Bettelheim. Zweifellos wollte der Psychiater nach der Begegnung mit Joachim seine Kenntnisse über Autismus auffrischen ...
    »Wenden Sie seine Methoden hier an?«
    »Nein, wir bewundern den Forscher, aber die Therapie hat sich stark weiterentwickelt.«
    »Gestatten Sie Eltern den Besuch ihrer Kinder?«
    »Selbstverständlich.«
    »Sagt Ihnen der Vorname Joachim etwas?«
    »Nein. Wieso?«
    »Nur so.« Mit einem flüchtigen Lächeln räumte Jeanne ein: »Dieser Fall ist sehr schwierig. Ich werfe viele Angeln aus, aber kein Fisch beißt an ...«
    »Ich verstehe nicht. Leiten Sie die Ermittlungen?«
    »Nein. Das ist eine der Schwierigkeiten ... Hat François Taine Kontakt zu Ihnen aufgenommen?«
    »Wer ist das?«
    »Der Ermittlungsrichter, dem der Fall übertragen wurde.«
    »Der Name sagt mir nichts, aber ein Richter hat mich angerufen, ja. Er hat mir Fragen über Autismus gestellt. Wurde ihm der Fall entzogen?«
    »Er ist tot.«
    »Wie ist er umgekommen?«
    »Bei einem Brand. Vorgestern.«
    Hélène Garaudy nahm einen Schluck aus der Flasche. Die Nähe des Todes jagte ihr keine Angst ein. Eine Krankenschwester, die vor wenigen Tagen in dem Institut, das Hélène leitete, ermordet und deren Leichnam teilweise verzehrt worden war. Der zuständige Ermittlungsrichter, der bei lebendigem Leibe verbrannt war. All dies schien sie nicht weiter zu berühren.
    »Hängen die Taten miteinander zusammen?«
    »Bestimmt. Einmal ganz abgesehen von zwei weiteren Morden. Jungen Frauen, die Marion Cantelau ähnlich sahen.«
    »Ein Serienmörder?«
    »Es hat den Anschein.«
    Jeanne wollte nicht weiter ins Detail gehen. Sie wollte lieber den zweiten und dritten Term ihrer Gleichung mit drei Unbekannten ergründen: Autismus, Genetik, Vorgeschichte ...
    »Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Autismus und Vorgeschichte?«
    »Was verstehen Sie unter ›Vorgeschichte‹?«
    »Archaische Lebensweise, regressive Mentalität.«
    »Ja, da gibt es einen Zusammenhang.«
    Jeanne zuckte zusammen: Sie hatte nicht mit dieser positiven Antwort gerechnet.
    »Wissen Sie, was ein Wolfskind ist?«, fuhr Hélène Garaudy fort.
    »Nein.«
    »Ein in der Wildnis aufgewachsenes Kind. Ein ausgesetztes Kind, das in einem feindlichen Lebensraum groß wurde, zum Beispiel einem Wald. Haben Sie schon mal von Victor de l'Aveyron gehört?«
    »Ich habe den Film von François Truffaut gesehen.«
    »Es handelt sich um eine tatsächliche Begebenheit. Dieses etwa zehnjährige Kind wurde im Jahr 1800 in einem Wald des Aveyron entdeckt. Es bewegte sich auf allen vieren fort und war anscheinend taubstumm. Es wiegte sich unentwegt und entwickelte keinerlei Bindung gegenüber denjenigen, die es ernährten. Das Kind wurde einem jungen Militärarzt, Jean Marie Gaspard Itard, anvertraut, der viel Zeit damit verbrachte, es zu erziehen.
    Jeanne sah die Schwarz-Weiß-Bilder des Films vor ihren Augen. Die geduldige Erziehung durch Itard, der von Truffaut selbst gespielt wurde. Das struppige Kind, halb Bestie, halb Engel. Die Etappen seiner Unterweisung. Die Musik Vivaldis ...
    »Aber trotz aller Bemühungen ist es Itard nicht gelungen, Victor zu ›sozialisieren‹.«
    »Was hat das mit Autismus zu tun?«
    »Heute spricht vieles dafür, dass Victor autistisch war. Er ist sogar

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