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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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hätte noch mehr von ihrem Thema weggeführt. Im Hinblick auf die Morde und den Täter brachten sie Isabelle Viotis Ausführungen kaum weiter. Der Mörder schien sich Zeichen und Riten ziemlich wahllos aus verschiedensten Epochen herauszupicken. Jeanne gelangte zu dem Schluss, dass der Mörder keine solide anthropologische Bildung besaß. Vielmehr schien er von Phantasiebildern besessen zu sein, die er aufs Geratewohl in Büchern und Museen gefunden hatte.
    »Dann kommt die neolithische Revolution«, fuhr Vioti fort. »Das war vor 10 000 Jahren. Das Klima erwärmt sich. Die Steppe, die von großen Herden durchstreift wird, verwandelt sich in dichten Wald. Die Mammuts verschwinden. Die Rentiere und die Moschusochsen ziehen nach Norden. Und innerhalb weniger Jahrtausende beherrscht der Mensch die Viehzucht und die Landwirtschaft. Da beginnen die gewaltsamen Auseinandersetzungen unter den Menschen. Jede Sippe begehrt die Vorräte ihrer Nachbarn. Die Getreidevorräte, die Viehherden ... Jean-Jacques Rousseau hatte Recht: Die Gewalt ist mit dem Eigentum in die Welt gekommen. Bald darauf folgt die Revolution der Metalle – zuerst Bronze, dann Eisen. Die Religionen verfeinern sich. Die Schrift entsteht. Die Vorgeschichte geht in die Frühgeschichte über ...«
    Jeanne dachte nach. Sie wusste nicht genau, was sie sich von diesem Vortrag erwartet hatte, aber es hatte kein »Aha-Erlebnis« gegeben. Nichts, was die Motive des Mörders erhellt hätte. Nichts, womit sich ein Zusammenhang zwischen der Vorgeschichte und den beiden anderen Obsessionen des Mörders – Autismus und Genetik – hätte herstellen lassen.
    »Danke für die Erläuterungen«, sagte sie, nachdem sie ihren – mittlerweile fast kalten – Tee getrunken hatte. »Kann ich Ihnen noch einige Fragen über Francesca Tercia stellen?«
    »Bitte!«
    »Seit wann arbeitete sie in Ihrem Atelier?«
    »Seit zwei Jahren.«
    »Sie hatte zwei Ausbildungen gemacht, nicht wahr?«
    »Ja, als Bildhauerin und Anthropologin.«
    »Wie kam es, dass Sie sie eingestellt haben?«
    »Ich habe eine Skulptur im naturwissenschaftlichen Museum Cosmo-Caixa in Barcelona aufgestellt. Dort hat sie mir ihre Bewerbungsunterlagen überreicht. Ich habe nicht eine Sekunde gezögert.«
    »Wie hat sie in Frankreich gelebt? Hat sie sich zurechtgefunden?«
    Vioti zeigte auf die Skulpturen.
    »Das da waren ihre Bezugspersonen. Sie lebte mit Toumai, den Neandertalern und Cro-Magnon-Menschen. Das war ihre große Leidenschaft.«
    »Hatte sie einen Freund?«
    »Nein, die Bildhauerei war ihr Leben. Übrigens nicht nur hier. Auch in ihrem Loft in Montreuil. Dort stellte sie modernere, persönlichere Arbeiten her.«
    »Was hat man sich darunter vorzustellen?«
    »Das war recht sonderbar. Sie benutzte unsere Abgusstechniken, um damit moderne Szenen mit hyperrealistischen Figuren, vor allem Kindern, zu kreieren. Ziemlich düstere Sachen ... Aber man begann sich für sie zu interessieren. Sie hatte sogar eine Galerie.«
    »Besitzen Sie die Schlüssel zum Loft Francescas?«
    »Sie hat immer ein Paar hiergelassen.«
    »Könnte ich sie haben?«
    Isabelle Vioti zögerte.
    »Entschuldigen Sie die Frage, aber es ist doch eher ungewöhnlich, dass ein Richter sich selbst die Mühe macht, einen Zeugen aufzusuchen, oder?«
    »Das kommt nie vor.«
    »Sind Sie wirklich für diesen Fall zuständig?«
    »Nein.«
    »Ich wusste es«, meinte die Künstlerin lächelnd. »Es ist also etwas Persönliches?«
    »Sehr persönlich. François Taine, der tote Richter, war mein Freund. Und ich werde alles tun, um diesem Mörder das Handwerk zu legen.«
    »Warten Sie hier.«
    Isabelle verschwand für eine Minute. Die Dämmerung brach herein. Die Augen der Plastiken funkelten im Halbdunkel wie die Sterne einer geheimnisvollen Galaxie. Einer erloschenen Galaxie, deren Licht jedoch noch immer zur Erde gelangte.
    »Hier. Rue des Feuillantines 34, nahe bei der Metrostation Croix-de-Chavaux in Montreuil.«
    Isabelle Vioti legte einen Schlüsselbund in Jeannes Hand.
    »Ich warne Sie. Das ist das reinste Chaos. Ich war dort, um Kleider für die Beisetzung zu holen. Francesca hatte keine Angehörigen mehr in Argentinien. Sie war ein Kind der Diktaturen. Ihre Eltern waren von dem Regime ermordet worden. Ich ...« Sichtlich bewegt hielt sie inne. Dann fing sie sich wieder. »Als ich dort war, ist mir etwas Merkwürdiges aufgefallen ...«
    »In ihrem Atelier?«
    »Ja. Eine Skulptur fehlte.«
    »Welche Skulptur?«
    »Ich weiß es nicht. Diejenige, mit

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