Im Wald der stummen Schreie
allem das, was die Paläoanthropologen schon lange ahnten: Der Mensch ist durch parallele kleine Veränderungen an verschiedenen Orten Afrikas entstanden. Der Mensch war mit klimatischen und landschaftlichen Herausforderungen konfrontiert. Verschiedene Familien haben koexistiert, sich angepasst und nach und nach unserer Evolution den Weg gebahnt.«
»Wer betrat nach den Australopithecinen die Bühne?«
»Der Homo habilis.«
Vioti wandte sich zu einem anderen Exponat um. Weniger stark behaart, etwas größer, ein Meter fünfzig. Aber noch sehr affenähnlich.
»Er ist mindestens zwei Millionen Jahre alt. Er heißt so, weil er begonnen hat, Steine und Werkzeuge zu benutzen. Sein Gehirn ist größer. Er ist ein Allesfresser. Er geht noch nicht auf die Jagd. Er frisst vor allem Aas – Kadaver von wilden Tieren, die er in Stücke reißt. Ein Opportunist, der in kleinen, etwa zehnköpfigen Gruppen lebt.«
»Die nächste Etappe?«
»Homo erectus. Er tauchte vor etwa einer Million Jahre auf. Er ist ausgeschwärmt. Innerhalb einiger Zehntausend Jahre ist er in den Nahen Osten und weiter nach Asien vorgestoßen.«
»Haben Sie keine Skulpturen von dieser Familie?«
»Seit zehn Jahren warte ich auf einen Schädel ... Der Homo erectus spaltet sich in zwei sehr bekannte Familien auf. Den Neandertaler einerseits, der allmählich verschwindet, und den archaischen Homo sapiens andererseits, den Proto-Cro-Magnon, dessen Überreste in Europa und im Mittleren Osten gefunden wurden, und aus dem dann der Homo sapiens sapiens hervorging. Der berühmte Cro-Magnon-Mensch, unser direkter Vorfahr ...«
Die Leiterin des Ateliers trat zur Seite, um den Blick freizugeben auf ein größeres und kräftigeres Geschöpf, das ein Fell trug und einen Speer schwang. Wulstige Schädelknochen, das Gesicht zur Hälfte hinter langen Haaren verborgen. Der Mann hätte der Roadie einer Hardrock-Band oder ein geistesgestörter Mörder in einem alten Horrorfilm sein können.
»Der Tautavel-Mensch, der europäische Erectus. Sein Skelett wurde in den Ostpyrenäen gefunden. Er ist mindestens 450 000 Jahre alt. Er gehört dem Zweig der Neandertaler an. Tatsächlich ist es ein ›Neandertaler-Vorläufer‹. Er beherrscht noch nicht die Technik des Feuermachens. Er benutzt zweiseitige Werkzeuge. Er jagt und lebt in Höhlen, von denen aus er seine Fressfeinde gut beobachten kann. Er ist manchmal Kannibale ...«
Jeanne war überzeugt davon, dass der Mörder sich in seinen Anfällen in einen dieser Frühmenschen verwandelte.
»Gab es damals schon eine Religion?«, fragte sie.
»Die Religion beginnt später, mit den Bestattungen. Vor knapp 100 000 Jahren. Damals beteten die Neandertaler und die Cro-Magnon-Menschen die Naturkräfte an.«
Jeanne dachte an die blutigen Schriftzüge an den Tatorten.
»Haben sie damals begonnen, die Höhlenwände zu bemalen?«
»Nein, der Neandertaler kannte keine Freskenmalerei. Er verschwand vor ungefähr 30 000 Jahren. Während dieser Zeit entwickelte sich der Cro-Magnon-Mensch weiter. Und mit ihm die Kunst der Felsmalerei.«
»Ist das die Epoche, in der die Felsbilder von Cosquer und Lacaux entstehen?«
»Ja, sie wurden damals gemalt.«
»Was können Sie mir über diese Fresken sagen?«
»Da kenne ich mich nicht besonders gut aus. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen die Telefonnummer eines befreundeten Experten.«
Isabelle Vioti trat auf eine Gruppe von Menschenfiguren zu, die auf links gewendete Felle trugen und wie Sioux aussahen.
»Das sind Cro-Magnon-Menschen.«
Jeanne war wie beim ersten Mal überrascht: Sie hatte sich die Frühmenschen immer als Mischwesen aus Mensch und Schimpanse vorgestellt, die Felle trugen und sich in Höhlen verkrochen. In Wirklichkeit glichen die Cro-Magnon-Menschen eher nordamerikanischen Indianern, wie man sie in Western sieht. Langes schwarzes Haar, Überwurf und Fellhosen, Schmuck und ausgeklügelte Werkzeuge.
»Das da sind nomadische Jäger-Sammler. Sie waren sehr geschickt im Behauen von Steinen, im Schneidern und im Veredeln von Fellen ... Die menschliche Zivilisation war auf dem Vormarsch ...«
»Haben sich die Sippen gegenseitig bekämpft?«
»Nein, sie waren zu sehr damit beschäftigt, zu überleben. Man nimmt sogar an, dass sich die Gruppen gegenseitig halfen. Jedenfalls wurden Ehen nur zwischen Angehörigen verschiedener Clans geschlossen, um Endogamie zu vermeiden.«
Jeanne hätte sie gern nach dem Inzestverbot gefragt, eine der ältesten Normen der Menschheit, aber das
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