Im Wald der stummen Schreie
Barjac ein Paket von Manzarena, dem Geschäftsführer der Firma Plasma Inc., erhalten. Am 8. Juni hatte François diesen Mann angerufen, der zweifellos ein Hämatologe war, ein Spezialist für Erkrankungen des Blutes und der blutbildenden Organe.
»Das ist nicht alles«, fuhr Reischenbach fort. »Ich habe noch einmal die Liste der Telefonate deines Psychiaters, Antoine Féraud, durchgearbeitet. Nicht nur seine beiden letzten Anrufe vom Montag, sondern auch die vom Wochenende. Am Sonntag, um 17.00 Uhr, hat er ebenfalls in Nicaragua angerufen. Ein Handy. Ahnst du, wem es gehört?«
»Eduardo Manzarena.«
»Ganz genau. Ich weiß nicht, wie dir das gelungen ist, aber du hast die heißeste Spur. Und die führt nach Managua.«
Jeanne antwortete nicht. Es gab also eine Verbindung zwischen Autismus, Chromosomen und Vorgeschichte. Ein Geheimnis, dessen Lösung sich vielleicht in einer Blutplasmaprobe aus Nicaragua finden ließ ...
»Und wie weit bist du?«, fuhr Reischenbach fort.
»Ich habe noch einmal mit den Chefs der Opfer gesprochen. Hélène Garaudy vom Bettelheim-Institut, Bernard Pavois von der gleichnamigen Firma ...«
»Geben sie dir Auskunft?«
»Bereitwillig.«
»Waren sie nicht irritiert, dass eine Richterin bei ihnen hereinschneit, um sie zu befragen?«
»Sie wissen nicht, dass es normalerweise umgekehrt ist.«
Der Polizist hakte nach:
»Wissen sie, dass du offiziell gar nicht zuständig bist?«
»Der Titel beeindruckt sie.«
»Was genau suchst du eigentlich?«
»Heute Abend werde ich mehr wissen.«
»Es ist fünf Uhr. Da bleibt dir nicht mehr viel Zeit.«
»Das gilt auch für dich. Hast du den Alltag der drei jungen Frauen noch einmal durchleuchtet?«
»Ja. Nichts. Keine Gemeinsamkeiten, kein Name, der die drei miteinander verbinden würde.«
»Und was ist mit Diebstählen oder Sachbeschädigung in prähistorischen Museen?«
»Nada.«
»Auch nichts Neues vom Erkennungsdienst oder aus der Gerichtsmedizin?«
»Falls es Neuigkeiten gibt, wird man jedenfalls nicht mich anrufen.«
»Weißt du, wem der Fall übertragen wurde?«
»Nein. Sobald ich die Namen erfahre, ruf ich dich an.«
»Damit ich ihnen aus dem Weg gehe?«
»Damit du weißt, wer deine Feinde sind.«
Jeanne sagte mit festerer Stimme:
»Finde heraus, wer dieser Eduardo Manzarena ist. Und was für Geschäfte Plasma Inc. in Managua macht. Und ermittle den Namen der Person, die Taine in Argentinien angerufen hat.«
»Jeanne, heute Abend ist Schluss.«
»Einverstanden. Lass uns später noch mal telefonieren.«
Die Porte de la Chapelle kam in Sicht. Jeanne fuhr von der Ringautobahn ab und in die Rue de la Chapelle hinein. Sie hatte sich schlaugemacht über Autismus und Genetik. Blieb noch die Vorgeschichte. Sie fuhr zum Atelier von Isabelle Vioti.
Als sie die Hochbahn erreichte, bog sie zuerst rechts ab, in den Boulevard de la Chapelle, dann links, in die Rue de Maubeuge, bis sie den Boulevard Magenta erreichte. Sie fuhr Richtung Place de la République, schwenkte jedoch schon vorher in die Rue de Lancry ein, um von oben in die Rue du Faubourg-du-Temple hineinzufahren. In ihrem kleinen Auto herrschte eine Hitze wie in einem Backofen. Die Klimaanlage funktionierte nicht mehr – Jeanne erinnerte sich nicht, dass sie jemals funktioniert hatte. Sie hatte das Gefühl, sich in ihrem eigenen Schweiß aufzulösen.
Sie hielt vor der Hausnummer 111, als ihr Handy läutete. Sie kannte die Nummer nicht.
»Hallo?«
»Hier ist Kommandant Cormier.«
Jeanne antwortete nicht. Der Name sagte ihr nichts.
»Ich habe Ihnen heute Morgen Blumen gebracht.«
»Ach ja, natürlich ...«
»Ich habe mich über mögliche Brandschutzmittel kundig gemacht. Ich habe Bekannte beim Film angerufen. Stuntmen und Spezialisten. Heute Morgen bin ich etwas zu weit vorgeprescht: Es gibt keine Substanz, die den menschlichen Körper gegen Feuer schützen könnte, jedenfalls nicht in dem Maße, dass man einen nackten Körper risikolos den Flammen aussetzen könnte.«
»Das habe ich schon geahnt. Ich danke Ihnen. Ich ...«
Der brennende nackte Mann, der im Zwischengeschoss mit François Taine kämpfte. Das in Flammende stehende Monster, das keinerlei Schmerzen spürte. Hatte sie vielleicht geträumt?
»Alles in Ordnung?«, fragte der Feuerwehrmann. »Geht es Ihnen gut?«
»Alles bestens. Und nochmals danke für die Blumen.«
»Danke für die Rettung.«
Jeanne stieg aus ihrem Wagen und merkte, dass sie zitterte. Ihre Nerven waren wie zum Zerreißen gespannte
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