Im Wald der stummen Schreie
Saiten einer Harfe.
Nachdem sie eine Weile zwischen Höfen und Gebäuden umhergeirrt war, fand sie schließlich hinter einem kleinen Bambusdickicht das Atelier. Dort herrschte geschäftiges Treiben. Die in weiße Kittel gekleideten Assistentinnen von Isabelle Vioti transportierten Skulpturen auf Stechkarren. Andere trugen Büsten oder Köpfe. Jeanne erspähte die roten Haare der Chefin.
»Ziehen Sie um?«
Jeanne stand in der offenen Tür. Isabelle Vioti erkannte sie sogleich. Sie wischte sich die Hände an ihrem Kittel ab und näherte sich mit einem Lächeln auf den Lippen.
»Wir haben beschlossen, das Atelier umzuräumen. Um die Atmosphäre zu verändern ... um die Spuren ... verstehen Sie?«
»Ich verstehe.«
»Francesca wurde heute Morgen beigesetzt. Kein Polizist ist gekommen. Niemand hat mich angerufen. Ist das normal? Haben Sie den Mörder gefunden?«
»Eher das Gegenteil.«
»Das Gegenteil?«
»Er hat uns gefunden.«
Jeanne bereute dieses leichtfertige Wortspiel. Es war weder der richtige Zeitpunkt noch waren es die richtigen Worte. Mit ernster Stimme fuhr sie fort:
»Lesen Sie denn keine Zeitungen?«
»Nein, heute nicht.«
»Der für den Fall zuständige Richter, der mich beim letzten Mal begleitet hat, ist tot. Bei einem Brand umgekommen. Zweifellos hat der Frauenmörder zugeschlagen.«
Isabelle Vioti wurde kreidebleich. Der Gegensatz zu dem knalligen Rot ihrer Haare war eines Gemäldes von Klimt würdig.
»Glauben Sie ... dass wir hier in Gefahr sind?«
»Nein. Haben Sie ein paar Minuten Zeit?«
Die Künstlerin bemühte sich, ihre Verstörung zu verbergen.
»Kommen Sie, hier entlang.«
Sie kehrten in den Ausstellungssaal mit dem langen schwarzen Tisch zurück. Die Skulpturen standen noch immer an ihrem alten Platz.
»Setzen Sie sich. Was wollen Sie wissen?«
»Ich brauche Hintergrundinformationen«, antwortete Jeanne und nahm auf einem Stuhl hinter dem Lacktisch Platz.
»Worüber? Unsere Arbeit?«
»Über die Evolution des Menschen.«
Isabelle Vioti wirkte überrascht und blieb stehen.
»Ist das für Ihre Ermittlungen wichtig?«
»Im Moment tappe ich im Dunkeln.«
»Die Evolution des Menschen erstreckt sich über einen Zeitraum von mehreren Millionen Jahren ... Wir bräuchten den ganzen Abend ...«
»Fassen Sie das Wichtigste zusammen.«
Die Frau steckte ihre Hände in die Taschen ihres mit Lehmflecken übersäten weißen Kittels. Sie schien zu überlegen. Nach einigen Sekunden fragte sie:
»Möchten Sie einen Tee?«
»Bitte keine Umstände.«
»Das macht keine Umstände. Ich habe immer eine Thermoskanne mit heißem Tee griffbereit.«
»Dann bitte ohne Milch und Zucker.«
Isabelle Vioti ging aus dem Zimmer und kam mit zwei dampfenden Tassen zurück. Dann legte sie los. Hinter ihr schienen die prähistorischen Kreaturen zu lauschen, als wären sie Studenten ihrer Vorlesung:
»Im Allgemeinen geht man davon aus, dass sich der Mensch vor etwa sechs bis acht Millionen Jahren von der Linie der anderen Menschenaffen abspaltete. Damals entstand in Ostafrika ein langer Grabenbruch, die sogenannte Riftzone. Dieses Phänomen hat eine ökologische Spaltung verursacht, die unser Schicksal besiegelte. Auf der einen Seite dieses Bruchs blieb der Tropenwald erhalten, und die Affen sind Affen geblieben. Auf der anderen Seite sind die Böden ausgetrocknet, sodass die Savanne entstanden ist. In dieser neuen Umgebung musste sich der Affe auf seine Hinterbeine aufrichten, um seine Fressfeinde rechtzeitig zu erspähen. So entstand der aufrechte Gang, und aus dem Menschenaffen ging der Australopithecus hervor, der Urahne des modernen Menschen, dessen bekanntestes Exemplar Lucy ist. Sie haben bestimmt schon von ihr gehört. Dieses weibliche Exemplar ist ungefähr 3,3 Millionen Jahre alt. Die Sache hat nur einen Haken.«
»Welchen?«
»Ihn.«
Isabelle Vioti legte ihre Hand auf ein knapp ein Meter großes schwärzliches Lebewesen. Ein Tier, das große Ähnlichkeit mit einem Schimpansen hatte, außer dass es aufrecht ging.
»Toumai. Er wurde 2001 entdeckt. Dank eines Abgusses von seinem Schädel und einigen Knochen konnten wir ihn rekonstruieren.«
»Und wieso stellt er ein Problem dar?«
»Er ist sieben Millionen Jahre alt. Er lebte also ganz bestimmt schon vor der Entstehung der Riftzone. Im Übrigen wurde er im Tschad gefunden, wo sich die Landschaft damals nicht veränderte.«
»Lässt sich das wirklich nicht mit der Entstehung des Grabenbruchs unter einen Hut bringen?«
»Es beweist vor
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