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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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war nicht seine Jessie. Das war ein ganz abgefeimtes Luder, das ihm eine Falle stellte, in die er unweigerlich tappen würde. Die Wahrscheinlichkeit dafür schätzte er im Moment auf mehr als 80 Prozent, oder wie er sich als Mathematiker eher auszudrücken pflegte: größer 0.8. Unter diesen Umständen blieb ihm nichts anderes übrig, als die Flasche zu entkorken. Sinnlos, sich gegen etwas aufzulehnen, das sowieso passierte.
    »Krabbencocktail mit dem besten Toast von Weymouth«, erklärte sie, während sie die Vorspeise auf die Teller stellte. »Ich hoffe, es schmeckt dir, Schatz.«
    Definitiv nicht seine Jessie. Ryan kam sich vor wie in einem Schwarz-Weiß-Film mit Spencer Tracy und Katherine Hepburn. Es war ihm beinahe peinlich, keinen Anzug und Schlips zu tragen. Aber er hatte Hunger. Sie war eine gute Köchin, das wusste er seit langem. Die kühlen Krebsschwänze hatten genau die richtige Schärfe, waren mit reichlich frischem Meerrettich gewürzt, wie er es liebte. Mit einem Stück Toast wischte er die letzten Spuren der köstlichen Sauce aus dem Glas, bis ihm einfiel, dass sich so etwas nicht gehörte in einem solchen Film.
    »Sag mal«, meinte er genüsslich kauend, »womit habe ich das verdient?«
    »Hast du nicht«, antwortete sie zu seiner Verblüffung.
    »Wie – was willst du damit sagen?«
    Sie machte ein spitzbübisches Gesicht. »Du hast es dir noch nicht verdient.«
    »Ich wusste es. Du willst mich um den Finger wickeln, nicht wahr?«
    Sie stand schmunzelnd auf, räumte das benutzte Geschirr weg und sagte auf dem Weg in die Küche: »Als Hauptspeise gibt’s grillierte Seezunge mit Speck und Steinpilzen. Dazu Stangenbohnen mit Knoblauch und reichlich Chili.«
    Die Show ging also weiter. Mit einem tiefen Seufzer griff er zum Weinglas. Während des Essens beschränkte er sich darauf, ihr für alles und jedes Komplimente zu machen. So hoffte er, weicher zu fallen, wenn sie endlich zur Sache käme. Bisher war er davon ausgegangen, sie genügend zu kennen, um sein Leben mit ihr zu verbringen – ein grundsätzlicher Irrtum. Er musste diese schöne Hypothese verwerfen, wie ihm seine Freunde prophezeit hatten, die stets behaupteten, Männer würden Frauen schlicht nicht verstehen. Der biologisch gebildete Fred kannte auch den Grund: für die Fortpflanzung war gegenseitiges Verständnis nicht notwendig. Sie waren beim Nachtisch angelangt. Jessie stellte zwei Schalen mit Pfirsichhälften auf den Tisch. »In Champagner gedünstet«, fügte sie bei. Zuletzt goss sie süßen ›Sauternes‹ in zwei kleine Gläser. Sie nippte am Dessertwein, lehnte sich zurück und setzte ein ernstes Gesicht auf.
    Es ist soweit, dachte er erschrocken und wagte nicht, weiter zu essen.
    »Ich habe mir etwas überlegt«, begann sie. »Winter ist doch auch eine schöne Jahreszeit.«
    Sollte er nicken oder den Kopf schütteln? Beides könnte sie ihm negativ auslegen. So begnügte er sich damit, stocksteif dazusitzen und weiter schweigend zuzuhören.
    »Warum wollen wir eigentlich warten bis nächsten Frühling?«
    Sein gequälter Verstand wusste keine Antwort. »Warten?«, fragte er verwirrt.
    »Mit der Hochzeit, Einstein.«
    Schlagartig verzog sich der Dunst in seinem Schädel. Er schloss messerscharf, dass sie noch in diesem Jahr heiraten wollte. »Darum also der Ausschnitt«, grinste er erleichtert.
    »Ach du nimmst mich nicht ernst.« Sie stand auf, trat entschlossen auf ihn zu und setzte sich auf seinen Schoß. Dabei achtete sie darauf, den erwähnten Ausschnitt so unter seiner Nase zu positionieren, dass der feine Duft nach Zitrusfrüchten und Vanille, der zwischen ihren Brüsten aufstieg, den dominierenden Knoblauch etwas in den Hintergrund drängte. »Wäre doch schön, wir zwei, im Süden an der warmen Sonne, wenn’s hier stürmt und kalt und leer ist. Meinst du nicht?«
    Er musste zugeben: Winter konnte man durchaus auch so verstehen. Kontext ist wichtig, hatte er von seinem Professor gelernt. Mit Philosophie kam er in diesem Fall nicht weiter. Sie erwartete eine Antwort. »Also...«, begann er zögernd, wie immer, wenn er nicht wusste, was er sagen sollte. »Wie – stellst du dir das vor?«
    »Ganz einfach«, lachte sie. Um das Maß voll zu machen, kniff sie die Augen ein wenig zusammen, um ihn mit ihrem unwiderstehlichen, fast wässrigen Schlafzimmerblick zu betören. »Wir feiern hier schön mit unsern Freunden, dann verduften wir aufs Schiff.«
    »Aufs Schiff?«, wiederholte er verdutzt.
    »Eine Kreuzfahrt in den

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