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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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wurde. Eine elektronische Spur zu hinterlassen wäre jetzt ein kapitaler Fehler. Die bereits gesammelten Dokumente steckte sie in eine Schublade, um keine unnötigen Fragen zu provozieren, dann verließ sie das Zimmer. Sie eilte den Korridor hinunter zum Büro der Techniker, wie sie ihren alten Arbeitsplatz nannte.
    Der kleine Max sprang auf, sobald er sie erblickte. »Achtung, die Kronprinzessin«, rief er freudig.
    »Sonst bist du in Ordnung?« Ihr Lächeln dürfte nicht sonderlich entspannt gewirkt haben, denn sein Grinsen wich augenblicklich einem Ausdruck echter Besorgnis.
    »Was ist los mit dir?«, fragte er leise.
    Sie schüttelte den Kopf. »Schlecht geschlafen, das ist alles. Max, ich habe eine Bitte.«
    »Nur zu.«
    »Ich brauche den Log des letzten Laufs.«
    Seine Finger flitzten schon über die Tastatur. »Vom 16., 03:15 Uhr. Meinst du den?«
    Sie nickte.
    »O. K., ich mail ihn dir.«
    Mit einem dankbaren Lächeln wandte sie sich ab. Einen Augenblick später traf sie fast der Schlag. »Nein, warte!«, rief sie etwas zu laut. »Nicht mailen. Ich – sehe mir das File gleich hier an, wenn du nichts dagegen hast.«
    Sein Zeigefinger verharrte um Haaresbreite über der ›ENTER‹-Taste. Langsam zog er die Hand zurück und blickte sie ratlos an. »Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«
    »Darf ich?«, drängte sie, ohne auf seine Überraschung zu reagieren.
    Er stand kopfschüttelnd auf und bot ihr seinen Platz an. »Lass dir Zeit«, meinte er. »Ich hol mir einen Kaffee. Auch einen?«
    Sie machte sich sofort an die Arbeit ohne zu antworten. Sie erstellte ein neues leeres Textdokument mit dem harmlosen Namen ›Briefing Agenda‹, dann öffnete sie das Logfile. Mit wenigen Mausklicks kopierte sie den ganzen Inhalt des Logs ins neue Textfile. Zuletzt sandte sie das Dokument mit dem harmlosen Fantasie-Namen an ihre Mailadresse. Sie hatte gerade noch Zeit, die Spuren ihrer Arbeit aus den Dateien und dem Mailkonto ihres Mitarbeiters zu löschen, bevor er mit zwei Bechern zurückkehrte.
    »Doppelter Espresso«, sagte er, als er einen der Pappbecher neben die Tastatur stellte. »Ich dachte, du brauchst etwas Starkes.«
    »Das ist lieb von dir.«
    Diesmal fiel ihr das Lächeln leichter. Sie erhob sich, nahm den Kaffee und wandte sich zur Tür. »Vielen Dank«, rief sie über die Schulter, als sie aus dem Büro schwebte.
    Vor ihrer Tür stand Bob. »Wir müssen reden«, sagte er düster, als sie sich näherte.
    Ihre Gedanken überschlugen sich. Fieberhaft überlegte sie, wo sie den Fehler gemacht hatte. Sie trottete hinter ihm ins Zimmer wie ein Schaf, das weiß, dass es zur Schlachtbank geführt wird. Vor dem Schreibtisch blieb er stehen. Ohne sie anzusehen, sagte er:
    »Ich muss mich bei dir entschuldigen.«
    War das eine perverse Falle? Ihr fiel keine vernünftige Antwort ein.
    »Ich reagierte neulich etwas ausfällig, als ich vom Vorfall in London hörte.«
    »Ach – das – habe ich längst vergessen«, log sie, unendlich erleichtert. »Ich hätte dich informieren müssen.«
    »Allerdings.« Er entspannte sich. »Quitt?«, fragte er schmunzelnd.
    »Ich überleg’s mir«, grinste sie.
    Er lachte kurz auf, dann erschien wieder der übliche, halb gequälte, halb verärgerte Ausdruck auf seinem Gesicht. »Neues zur China Connection?«
    Sie schüttelte stumm den Kopf. »Wir sind jetzt aber überzeugt, alle wichtigen Verästelungen der ›Galaxy Boom Industries‹ zu kennen. Du bekommst nächstens eine Übersicht über die Massnahmen, die wir getroffen haben.« Das Foto, das sie in letzter Minute in Lis Machtzentrum in Macao geschossen hatte, erwies sich als wahre Goldgrube für ihre Zwecke. Mit Hilfe der kunstvollen Schnitzerei waren sie Verbindungen auf die Spur gekommen, die sie sonst niemals vermutet hätten. Li war hervorragend vernetzt bis in die höchsten politischen Gremien. Seinen Einfluss auf Firmen der Elektronikbranche, auf Raffinerien und Minen in aller Welt konnte man nur als beängstigend bezeichnen. Sie wussten nun, wo sie die empfindlichen Ohren und Augen der NSA einsetzen mussten und waren auf dem besten Weg, das Imperium des Herrn Li rund um die Uhr zu überwachen.
    »Man müsste den Scheißkerl ausquetschen können«, knurrte Bob.
    Mit diesem kreativen Vorschlag verließ er ihr Büro. Sie saß eine Weile grübelnd am Schreibtisch, bevor sie mit ihrer heimlichen Arbeit weiterfuhr. Nach Bobs angedeuteter Entschuldigung bereute sie beinahe, was sie tat, doch dann dachte sie an die zartbittere

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