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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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zum Rettungswagen, in dem Hazel auf den Transport ins Spital wartete.
    »Ich komme nach«, sagte er müde, als sich die Türen schon geschlossen hatten.
    Ein Polizist trat auf ihn zu. »Sir, sind Sie in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?«
    Er nickte und begann zu berichten, wie er die Katastrophe erlebt hatte.
    »Sir, ich glaube, es ist besser, wenn wir uns auf dem Kommissariat unterhalten«, unterbrach der Beamte freundlich.
    Resigniert folgte er ihm zur Straße. Das Gartentor hing traurig an seinem Pfosten, die letzte Erinnerung an den Stolz der Hazel White. Er ertrug den Anblick nicht länger, doch etwas, das vorher noch nicht da war, hinderte ihn daran wegzuschauen. An einem der Gitterstäbe steckte ein Zettel. Das gleiche Papier wie die Notiz auf seinem Couchtisch in Bristol. Die Entdeckung versetzte ihm einen Schlag wie ein Stromstoss. Erregt riss er den Zettel ab. Im Schein der Straßenlampe warf er einen Blick darauf, bevor er ihn diskret einsteckte. Ein paar komplizierte chinesische Zeichen standen darauf, wahrscheinlich nur zwei, drei höhnische Wörter. Er konnte sich ungefähr ausmalen, was sie bedeuteten.
     
    Macao, Volksrepublik China
     
    Huan Li schaute nachdenklich über das Wasser auf die Lichter von Taipa hinunter. Der Stundenzeiger der goldenen ›Atmos‹ auf dem Eckschrank zeigte fast neun. Die Uhr erinnerte ihn stets an die Schweiz. Für die Ewigkeit gemacht, genau wie die Tresore in diesem kleinen Land. Es war bald Zeit zu gehen, doch ohne die endgültige Bestätigung wollte er sein Büro nicht verlassen.
    Das Telefon klingelte. Sein privates Handy, nicht die unsichere Anlage, über die ihn sein Vorzimmer erreichte.
    »Wir sind jetzt am Flughafen, Herr Li«, sagte die bekannte Stimme seines alten Vertrauten vom Sicherheitsdienst.
    »Alles erledigt?«
    »Ja, wie Sie verlangt haben. Ich habe den Code nach Ihren Vorgaben gewechselt. Wir haben alles gründlich kontrolliert. Das Inventar stimmt. In dreißig Minuten fliegen wir nach Macao zurück.«
    »Der Engländer?«
    »Er hat seine Lektion bekommen. Er wird Sie nicht mehr stören.«
    Li legte lächelnd auf. Er war bereit für die letzte Phase des großen Plans. Sein Gold war sicher, tief im Fels der Schweizer Alpen. Trotzdem machte er sich eine geistige Notiz, den Code beim nächsten Besuch erneut zu ändern. Er rief seine zwei Bodyguards und fuhr mit ihnen im privaten Lift in die Garage.
    Eine Stunde später kreuzte die prachtvolle Dschunke ›Prosperity‹ mit ihm und neunzehn weiteren Männern zwei Meilen vor der Küste. Die roten Segel warfen im Mondlicht wehende Schatten aufs hölzerne Deck. Auf den ersten Blick eine gewöhnliche Vergnügungsfahrt, wie man sie rund um die Inseln oft beobachten konnte. Auf dem Schiff aber herrschte angespannte Ruhe. Die Männer unterhielten sich nur im Flüsterton, und die Fenster der großen Kajüte waren mit schwarzen Vorhängen verhüllt. Sie hatten sich nicht zum Vergnügen auf diesem Schiff versammelt. Oder nicht nur, dachte er schmunzelnd. Vier feierliche Gongschläge kündeten den Beginn der Zeremonie an. Li trat unter dem Zeichen des Dreiecks in die nur spärlich erleuchtete Kajüte. Er und seine Mitbrüder setzten sich auf die Sessel entlang der Wände, die für die Zuschauer bestimmt waren. Sein Stuhl trug die Nummer 415, der Sitz des ›Bewahrers des Weißbuchs‹, des einflussreichen Schatzmeisters der Organisation. Zuletzt betrat die Nummer 489, der gefürchtete und allmächtige Drachenkopf, den düsteren Raum, gefolgt vom Zeremonienmeister. Der begrüßte die Männer sogleich mit der üblichen Floskel:
    »Verehrte Brüder im Zeichen des ›Hung‹. Wir sind heute Abend versammelt, um zwei neue Brüder in unsern Bund aufzunehmen. Seid ihr bereit?«
    Der Chor der Männer antwortete im vorgeschriebenen Singsang: »Meister, wir sind bereit.«
    Auf sein Zeichen erhoben sich die zwei vordersten Zuschauer von ihren Sitzen. Jeder ergriff eines der bereitliegenden Schwerter. Sie stellten sich vor den Eingang, kreuzten die Klingen über ihren Köpfen und bildeten so den ›Berg der Klingen‹, den die Neulinge zuerst überwinden mussten. Der Zeremonienmeister rief den Ersten herein. Ein junger Mann erschien mit gesenktem Blick in der Türöffnung. Seine Haltung verriet Demut und Ehrfurcht vor den älteren Brüdern, wie ein jeder es erwartete. Mit entblößtem Oberkörper, auf nackten Füssen schritt er andächtig unter den Schwertern hindurch. Vor dem Zeremonienmeister blieb er stehen, wartete

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