Im Westen geht die Sonne unter
Schokoladenstimme, und der Anflug schlechten Gewissens ging vorüber. Sie musste Ryan die vertraulichen Dokumente schicken. Elektronisch ging das nicht. Eine solche Mail an die Außenwelt würde mit tödlicher Sicherheit in einer der automatischen Sicherheitsprüfungen hängen bleiben und sofort Alarm auslösen. Auch alle Varianten elektronischer Speichermedien würden das ›Building‹ niemals verlassen, unabhängig davon, wie raffiniert man sie tarnte. Im Wesentlichen existierte nur eine sichere Methode, wie man Informationen aus dem Haus schmuggeln konnte: Im Kopf.
Sie wählte die zweitbeste Methode, über die sie schon manchmal und immer wieder mit Verblüffung nachgedacht hatte während der umständlichen Sicherheitskontrollen am Ausgang. Sie druckte den vertraulichen Text und die andern Dokumente mit einer neutralen Vorlage aus, sodass nirgends ein Hinweis auf die Geheimhaltungsstufe erschien. Ein erstaunlich simpler Trick, um das dicke ›NSA Classification Manual‹ auszuhebeln. Zuletzt produzierte sie ein nichtssagendes Deckblatt und stopfte alles in ein Aktenmäppchen. Nun brauchte sie nur noch die Stunden zu zählen, bis sie sich endlich zur gewohnten Zeit unauffällig auf den Heimweg machen konnte. Die Dokumente passierten die Sicherheitskontrolle problemlos.
Zu Hause ließ sie ihren Scanner die Blätter wieder einlesen, bündelte alles in ein elektronisches Archiv und schickte es verschlüsselt nach England. Den Schlüssel erhielt Ryan mit einer SMS auf seinem Handy.
Weymouth, Dorset, UK
Ryan ließ die Saint Mary Street links liegen und fuhr direkt zur Esplanade, ganz gegen seine Gewohnheit an einem Freitagabend. Jessie hatte sich frei genommen, spontan, ohne besonderen Grund. In dieser Beziehung musste er noch viel von ihr lernen. Immerhin überwand er sich, Alex’ Mail ungelesen im Eingangsfach liegen zu lassen und zwei Stunden früher als üblich nach Weymouth zu fahren. Die bohrende Frage, ob und wie viel er Jessie von der drohenden Gefahr erzählen sollte, ließ ihn den ganzen Weg nicht los. Er hatte die Antwort noch nicht gefunden, als er das stattliche Haus an der Greenhill Terrace erblickte.
»Sie ist in der Küche«, grüßte Jessies Mutter mit einladendem Lächeln zwischen Ginster und Rosenbusch. Vorbei war die Zeit des kalten Krieges. Sie hatte ihren Schwiegersohn in spe noch am gleichen Tag ins Herz geschlossen, als sie den Ring am Finger ihrer Tochter sah.
»Was gibt’s denn?«
Hazel rollte die Augen. »Geheimnis«, flötete sie ironisch. »Sie lässt niemanden in die Küche. Soll eine Überraschung werden für euch zwei.«
Überraschung fett gedruckt. Er lachte: »Ein romantisches Tête-a-Tête, meinst du?«
»Sozusagen. Geh schon rein. Sie kann es nicht erwarten.«
War das ihre delikate Überraschung? Ihm sollte es recht sein. Nach einer Woche mit kalten Cereals und staubtrockenen Sandwiches mit Coleslaw hatte sein Magen weiß Gott etwas Besseres verdient. Das Esszimmer der Whites im ersten Stock duftete wunderbar nach scharfem Knoblauch, grilliertem Speck und einer Kräutermischung, die ihn entfernt an Petersilie erinnerte. Der Tisch war für zwei gedeckt, mit blendend weißen Stoffservietten und Besteck für Vorspeise, Hauptspeise und Dessert. Das ganze Programm. Eine Flasche ›Château La Tour Blanche‹ stand im Weinkühler bereit, sicher der teuerste Tropfen, den dieses Haus je gesehen hatte. Die Überraschung wurde von Minute zu Minute delikater.
»Jessie?«
Sie rauschte strahlend aus der Küche, schlang ihm die Arme um den Hals und küsste ihn zärtlich. »Du bist ja pünktlich«, spottete sie.
Er betrachtete sie, als sei sie einem Raumschiff entstiegen. So hatte er sie noch nie gesehen. Sie trug ein kurzes, grau-beiges Satin-Kleidchen mit einem Ausschnitt, der ihre Rundungen mehr als andeutete und seine Blicke magisch anzog. Ihre Füße steckten in schwarzen Slingpumps, deren Absätze sie beinahe auf seine Größe wachsen ließ. Sie hatte sich eine weiße Schürze umgebunden und schaute ihm tief in die Augen. Dieser Blick, der so gar nichts mehr gemein hatte mit dem üblichen verträumten Schlafzimmerblick, dieser fast lauernde Blick war es, der ihn aufs Höchste alarmierte.
»Du hast gekocht«, bemerkte er albern.
»Sieht man das?« Sie tätschelte seine Wange. »Setz dich, es ist gleich fertig. Du kannst dich inzwischen um den Wein kümmern. Oder möchtest du zuerst etwas anderes trinken?«
Er schüttelte den Kopf, überwältigt, verständnislos. Das
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