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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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warteten, Er musste etwas Sinnvolles sagen. »Nun ...«, begann er gedehnt, »das scheint mir eine allzu einfache Zusammenfassung zu sein. Abgesehen davon behaupte ich gar nichts, ich leite her und stelle fest. Mathematik, mehr ist das nicht.«
    »Aber in der Zusammenfassung schreiben Sie, dass Ihr Modell die Goldblase vom Januar 2010 korrekt vorausberechnet hätte. Für den naiven Leser hört sich das an wie eine Prophezeiung. Im Nachhinein zwar, aber immerhin.«
    Schon hatte die süße Maus ihn festgenagelt. Sie wollte ein klares Ja oder Nein auf eine einfache Frage, auf die es keine kurze Antwort gab. »Wo soll ich nur beginnen«, murmelte er ratlos.
    »Ganz vorn. Stellen Sie sich vor, ich sei Ihre kleine Schwester, der sie in wenigen Sätzen erklären wollen, was Sie tun.«
    Er schüttelte lachend den Kopf. »Geht nicht«, meinte er. »So viel Fantasie habe ich nicht.« Plötzlich kam ihm der rettende Gedanke. »Vielleicht sollte ich Ihnen einfach schildern, wie unser Modell Finanzblasen erkennt.«
    Sie nickte stumm. Langsam und konzentriert, auf jedes Wort bedacht, erklärte er den Algorithmus Schritt für Schritt, mit dem seine Software das Börsengeschehen analysierte. Manchmal stockte er, musste einen Satz in anderen Worten, ohne Fachbegriffe, neu formulieren. Die Aufgabe war schwierig, aber mit der Zeit fiel es ihm leichter, selbstverständliche Begriffe wie ›nichtlineare Abhängigkeit‹, ›Randverteilung‹ und ›schiefe Pareto-Distribution‹ zu meiden. Das Mäuschen hörte zu und machte brav Notizen, sodass er am Ende überzeugt war, die allgemein verständliche Sprache gefunden zu haben, die sie erwartete.
    »Ausgezeichnet«, sagte sie schließlich lächelnd. »Sehen Sie, Sie haben doch genügend Fantasie.«
    »Und das, obwohl ich leider keine kleine Schwester habe.«
    »Ich weiß.«
    »Sie wissen?«
    »Aber sicher. Ich muss wissen, wen ich vor mir habe, wenn ich jemanden interviewe. Berufskrankheit. «
    »Na gut, ist ja nicht gerade ein Geheimnis, dass ich als verwöhntes Einzelkind aufgewachsen bin.«
    »Verwöhnt ist mir neu«, schmunzelte sie. »Darf ich das notieren?« Scherzhaft zückte sie den Stift.
    Sie saßen immer noch in der Cafeteria. Ab und zu tauchte ein Student oder eine Assistentin auf, streifte seinen auffallenden Besuch mit einem neugierigen Blick und widmete sich dann der spärlichen Auslage. Er nahm an, alles gesagt zu haben und schlug vor, ihr das Modell in Aktion zu zeigen. Schon wollte er sich erheben, als sie ihn mit einer weiteren Frage überraschte:
    »Was mich noch interessiert: Welche Daten verwenden Sie?«
    »Preisfeeds von Reuters und Börsen, Webpages, Twitter, das halbe Internet.«
    »Was ich meine: kann Ihr Modell erkennen, wo eine Blase entsteht, wer sie sozusagen verursacht?«
    »Nein«, antwortete er verblüfft. »Die Frage hat sich bis jetzt nicht gestellt. Allerdings ...«
    »Ja?«
    Täuschte er sich, oder hing sie jetzt an seinen Lippen, als wäre dies die wichtigste aller Fragen? »Ein sehr interessanter Hinweis, den Sie mir da geben«, antwortete er zögernd. »Ich glaube, es sollte möglich sein, Aussagen in dieser Richtung zu machen, wenn man die geeigneten Daten hat.«
    »Was heißt geeignet? Bankdaten zum Beispiel – SWIFT?«
    Er starrte sie mit offenem Mund an. Es war, als stießen sie übergangslos von harmloser Unterhaltung in die Tiefen des Modells vor, die zu verstehen nur Spezialisten vorbehalten war. »Sie – ja – das wäre möglich«, stammelte er. »Was – warum interessiert Sie das?«
    Sie schaute ihn nachdenklich an. »Ich glaube, wir sollten das doch besser in Ihrem Büro besprechen«, meinte sie.
    Er hatte seinen Arbeitsplatz bis spät in die Nacht auf Hochglanz poliert. Was er darunter verstand: Hefte, Zeitschriften, Ordner weg vom Tisch, hinein in die Schränke, Deckel zu. Probleme gab es bei zwei Rollcontainern, deren volle Schubladen alles zurückwiesen, was er hineinstopfen wollte. Es blieb nichts anderes übrig, als endlich einmal auszumisten. Eine zeitraubende Angelegenheit. Verlorene Zeit aus seiner Sicht. Wenigstens hatte sich der Aufwand gelohnt. Seiner Besucherin schien die neue Ordnung zu gefallen. Eine Weile betrachtete sie stumm die Formelwand, die mittlerweile übersät war mit handschriftlichen Ergänzungen und Korrekturen.
    »Ihr Modell?«, wisperte sie schließlich ergriffen, als stünde sie vor Raffaels monumentaler ›Schule von Athen‹.
    »Sieht ziemlich chaotisch aus, nicht?«
    Sie drehte sich zu ihm um und

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