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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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Gelegenheit, das verstaubte Kompendium über ›Corporate Finance‹ nochmals durchzublättern. Sie würde dann nicht gar so nackt vor dem Mann stehen. Obwohl – bei der Stimme?
     
    Universität Bristol, UK
     
    Ryan hatte es eilig. Ohne die Wohnungstür abzuschließen, rannte er die Treppe hinunter, zum Haus hinaus und wollte sich aus dem Staub machen. Mr. Meriwether gefiel das gar nicht. Er stoppte Ryan mit einem ergreifenden Klagelied, das selbst Steine erweichen würde, sollte es länger dauern.
    »Ich weiß – ach Mist. Tut mir leid«, murmelte Ryan zerstreut. Er kraulte den Kater kurz unter dem Kinn, wo er es am liebsten mochte. Nach wenigen Sätzen stand er wieder in der Küche, goss Milch in Mr. Meriwethers Teller und sauste zum zweiten Mal die Treppe hinunter. Als er den Teller unter das Vordach stellte, war die Hälfte der Milch verschwunden. Der Kater rümpfte zwar die Nase ob der mageren Mahlzeit, aber er ließ ihn ohne weiteren Protest ziehen.
    Seit er am Morgen die Augen aufgeschlagen hatte, und vielleicht schon vorher, kreisten Ryans Gedanken um das Treffen mit der Journalistin. Es war sein erstes echtes Interview. Noch nie hatte sich jemand außerhalb des akademischen Zirkels von Strebern für seine Arbeit interessiert. Wie sollte er einem Laien in verständlichen Worten erklären, wie sein Modell funktionierte? Was bildete sich die Frau ein? Am meisten fürchtete er das Mikrophon. Wenn sie ein Aufnahmegerät vor ihn hinstellte, setzte sein Verstand aus, das wusste er aus Erfahrung. Schon die Rollenspiele in der Schule in Weymouth hatten stets in einer Katastrophe geendet. Er hätte niemals zusagen sollen. Dieses Interview machte einfach keinen Sinn. Warum konnten die Leute nicht einfach seine Arbeit lesen? Da stand alles klipp und klar drin. Mehr gab es nicht zu sagen. Diese Begegnung lag ihm wie ein Teller fetttriefende Fish and Chips im Magen.
    Alle Selbstzerfleischung half nichts. Pünktlich um zehn rief ihn die Zentrale an: »Dein Interview ist da.«
    »Ich komme«, antwortete er tonlos.
    Als erstes fiel ihm auf, dass sie scheinbar ebenso nervös, fast unsicher wirkte wie er. Dann sah er ihre bis über die Schulter fallende kastanienbraune Haarpracht, die neugierigen schwarzen Augen, den weichen Mund und das kleine Näschen. Vor ihm stand nicht der abgebrühte Pressedrache, der seine Opfer gnadenlos zerzauste, wie er erwartet hatte. Jedenfalls sah sie nicht danach aus. Bis sie seine Hand wieder losließ, fühlte er sich schon beinahe entspannt.
    »Ryan«, korrigierte er sie. »Einfach Ryan Cole. Bis zum Doktor dauert’s noch ein paar Monate.«
    »Ach so, dann ist der Artikel Teil Ihrer Doktorarbeit?«
    »Genau genommen ist er die Dissertation«, lachte er. »Der Rest der Arbeit besteht nur noch aus akademischer Staffage und Querverweisen.« Er redete mit ihr wie mit einem normalen Menschen, stellte er erstaunt fest. Sie standen noch immer in der Eingangshalle. Da er keine Anstalten machte, sich zu bewegen, schaute sie ihn mit großen, fragenden Augen an. Das wirkte. »Ach – entschuldigen Sie«, sagte er verlegen. »Gehen wir in mein Büro.«
    Sie folgte ihm einige Schritte, blieb plötzlich stehen und fragte beinahe scheu: »Ryan? Entschuldigung, gibt’s hier vielleicht einen Kaffee oder so etwas?«
    »Sicher.« Er überlegte. Die saure Brühe seiner Kochnische durfte er ihr nicht anbieten. »Es gibt eine kleine Selbstbedienungs-Cafeteria im Institut. Ist das O. K.?«
    »Wunderbar.«
    Besser war der Kaffee nicht, nur weniger sauer, aber sie zuckte mit keiner Wimper. Nach einem winzigen Schluck setzte sie den Becher ab und sagte lächelnd:
    »So spricht sich’s doch viel gemütlicher. Kleiner Reportertrick.«
    »Bei mir hat er funktioniert«, grinste er. »Warnen Sie mich, wenn das Interview beginnt?«
    »Es hat schon begonnen.«
    Er stutzte. »Oh – ganz ohne Recorder? Oder sind Sie verkabelt?«
    »Keine Angst«, lachte sie. »Ich merke mir einfach gut, was Sie sagen und werde hin und wieder Notizen machen, ganz klassisch. Ist das in Ordnung?«
    »Hört sich brillant an.« Die Erleichterung war ihm sicher anzusehen.
    Sie musterte ihn fast ein wenig spöttisch, wie ihm schien, bevor sie unvermittelt zur Sache kam und fragte:
    »Sie sind also der Mann, der behauptet, die Zukunft vorhersagen zu können?«
    Es klang wie eine Feststellung. In einem gewissen Sinne stimmte die Behauptung ja auch. Trotzdem wusste er im ersten Moment nicht, was er darauf antworten sollte. Ihre schwarzen Augen

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