Im wilden Meer der Leidenschaft
„Was hätte er denn sonst machen sollen?“
„Eben. Aber trotzdem starb die arme Frau und ihr Baby auch. Diego schwor sich, den Kapitän zu töten, um sich zu rächen.“
„Und ausgerechnet in meiner Taverne ist er auf ihn getroffen.“ Bianca schüttelte den Kopf angesichts dieses unwahrscheinlichen Zufalls. Die ganze blutgetränkte Szene hatte sich also nicht wegen eines Streits um Gold oder Macht abgespielt, sondern aus Liebe. Der größten menschlichen Verirrung überhaupt.
„Kapitän Grattiano wird für alle Reparaturen aufkommen, Señora“, beeilte sich Mendoza hinzuzufügen. „Wir sind Euch alle sehr dankbar für Eure Hilfe.“
„Dankt mir erst, wenn alles überstanden ist“, erwiderte sie. „Geht Euch lieber um Euren Kapitän kümmern. Ich muss meine Einkäufe erledigen.“
„Natürlich, Señora.“
Als sie sich schon verabschiedet hatten und Mendoza in Richtung Taverne ging und Bianca zu den Stufen, die hinunter zur Plaza führten, rief sie ihn noch einmal zurück. „Señor Mendoza!“
„Ja, Señora?“
„Welches Schiff ist die Calypso ?“
Er zeigte auf ein Schiff, das etwas abseits der anderen in einer kleinen geschützten Bucht lag. „Das ist sie. Wir sind fast fertig mit den Reparaturen. Sobald der Kapitän wieder auf den Beinen ist, laufen wir aus.“
„Wohin soll es gehen?“
Nun kehrte das Lächeln auf Mendozas Gesicht zurück. „Endlich nach Hause! Es ist eine Ewigkeit her, dass wir auf Vista Linda waren.“
Vista Linda. Das war ihr Zuhause. Und wo befand sich dieser Ort? Aber bevor sie ihn fragen konnte, hatte der Quartiermeister sich schon wieder umgedreht und pfiff im Weggehen ein Seemannslied. Auch Bianca setzte ihren Weg fort, verwirrter als zuvor.
Ihre Mutter hatte sich immer mit der ungewissen Zukunft und den Rätseln des Lebens beschäftigt. Ob es um Liebe, Tod, Glück oder Unglück ging – sie konnte es vorhersagen. Bianca zog das wirkliche Leben vor. Arbeit, Freundschaft, ein behagliches Feuer am Abend, ein Becher guten Weins. Dinge, die sie sehen konnte, die fassbar waren. Trotz der Anziehungskraft der weiten Meere, von Abenteuer und Freiheit, wusste sie, dass all das nicht von Bestand war.
Balthazar Grattiano war wie das Meer. Unbeständig, stürmisch, aber dennoch von großer Schönheit und Faszination. Und genau wie das Meer konnte er ihr zu jedem Zeitpunkt den Boden unter den Füßen wegreißen. Um in der neuen Welt zu überleben, musste man hart und grausam sein, und die Grattianos hatten sich noch nie durch ihre Güte ausgezeichnet. Doch warum war Balthazar dann nach Kuba zurückgekehrt, um das Wohlbefinden einer Frau zu sichern? Und wie hatte er es angestellt, dass seine Mannschaft ihm so ergeben war, dass sie ihm willig folgte?
Nun, nicht jeder war ihm so ergeben. Bianca fröstelte, als sie an Diego, den seltsamen Mann mit den toten Augen dachte.
Völlig verwirrt von diesen Gedanken, die sich in ihrem Kopf drängten, verschwommen und unklar wie in einem Traum, betrat sie den Hauptplatz Santo Domingos. An einer Seite der gepflasterten Plaza lag die Kathedrale Santa Maria La Menor. Obwohl sie noch nicht ganz fertiggestellt war, wirkte sie mächtig und beeindruckend und glänzte weiß im harten Morgenlicht. Die Türen standen offen und luden die Gläubigen in ihr kühles, schattiges Halbdunkel, wo sie vor dem vergoldeten Altar um die Vergebung ihrer Sünden beten konnten.
Bianca ließ den prunkvollen Bau der Kirche hinter sich und begab sich ins lebhafte Treiben des Markts. In der Mitte des Platzes stand ein großes steinernes Kreuz, um das herum die Markstände und Tische der Bauern und Händler aufgebaut waren. Jede Woche nahmen sie die lange Reise von ihren Haziendas oder kleinen Plantagen im Landesinneren auf sich, um den Stadtbewohnern ihre Waren anzubieten.
Bianca begutachtete das Obst und Gemüse: glänzende Orangen, Zitronen und Guaven, hohe Berge aus Maniok. Sie ging an Tonnen voller Zucker vorbei, die Überreste dessen, was von den vierunddreißig Raffinerien der Insel exportiert wurde. Sie sah Krüge voller Melasse, die für den Rum benötigt wurde, und kleine Behälter voll kostbarer Gewürze. Doch Bianca suchte nach etwas anderem. Sie inspizierte die Rinder der Viehhändler und das Fleisch der Wildschweine, die in den Bergen der Insel lebten. Ihre Gäste mochten vertrautes, spanisches Essen, und genau dieses Fleisch benötigte sie für ihre deftigen Eintöpfe und Braten, die sich so gut verkauften.
Als sie ihre Einkäufe bezahlte,
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