Im wilden Meer der Leidenschaft
ging in Richtung Marktplatz. Die Gasse, in der ihre Taverne lag, war, wie die meisten Gassen Santo Domingos, eng und dicht mit Häusern und Geschäften bebaut, aber sie war gepflastert wie die jeder europäischen Stadt. Im Morgenlicht glänzten der gelbe Putz und die roten Ziegel der Häuser, und die Luft war frisch und klar und von einer salzigen Brise erfüllt. Erst später, wenn die Sonne hoch am Himmel stand, würde es unerträglich heiß werden, und man würde die Läden aller Häuser schließen.
Sie ging die steilen Gassen entlang und erwiderte die Grüße ihrer Nachbarn, die ihre Geschäfte öffneten. Später würde sie noch der Bäckerei und dem Kontor ihres Zucker-Lieferanten, der die Ware von den Plantagen im Innern der Insel in die Stadt brachte, einen Besuch abstatten müssen. Aber jetzt tat sie besser daran, erst einmal ihre Einkäufe auf dem Markt zu erledigen. Die Glocken der Kathedrale waren schon verstummt, und bald würde der Platz überfüllt und das beste Fleisch und Gemüse bereits verkauft sein.
Endlich ließ sie das Labyrinth der Gassen hinter sich und erreichte den offenen, zentralen Teil der Stadt. Santo Domingo war auf einem Hügel erbaut worden, und diese Lage stellte eine natürliche Abwehr gegen mögliche Angreifer dar. Die Festung des Gouverneurs, die Schatzkammer und der Sitz des Stadtrats lagen am höchsten Punkt der Stadt und waren durch dicke Mauern und bewachte Eingänge geschützt. Die spanische Gräfin, von der Delores geredet hatte, war jedoch heute Morgen nicht zu sehen. Als Bianca die Befestigungsmauern erreichte, konnte sie die zerklüfteten, grünschwarzen Berge erkennen, die den Blick auf das Innere der Insel, das sie nie gesehen hatte, verbargen. Eine sanfte Brise wehte von den üppig bewachsenen Bergen herüber, und leichten Schritts eilte sie weiter.
So schnell sie konnte, ließ sie die Galgen, an denen heute Gott sei Dank keine leblosen Körper baumelten, hinter sich und blickte zum Hafen hinunter. Die Mündung des Rio Ozamas bildete einen natürlichen Hafen, der Ankerplatz für Dutzende von Schiffen bot. Normalerweise, außer wenn die Flotte kurz vor dem Auslaufen zurück nach Spanien war, lagen dort weniger Schiffe als heute. Aber wegen des Sturms hatten viele Seeleute Zuflucht gesucht. Aus dem saphirblauen Wasser erhob sich ein Wald von Masten, und auf den Schiffsdecks wimmelte es von Matrosen. Von ihrer Position auf der Stadtmauer aus konnte Bianca undeutlich ihre Rufe und ihre Seemannslieder hören.
Sie blieb stehen, um unter den zahlreichen Schiffen nach der berühmten Calypso zu suchen. Es hieß, ihr Großmast sei zerstört, aber das war bei vielen der Schiffe dort unten, die gerade instandgesetzt wurden, der Fall. Sicherlich würde die Calypso aus der Menge herausragen wie das Flaggschiff einer mächtigen Flotte, schon durch die Wunderkräfte, die ihr angeblich anhafteten.
Doch war ein solches Schiff nicht zu erkennen. Sie sah lediglich die üblichen Karavellen und Karacken und kleine Pinassen, denen der Sturm arg zugesetzt hatte. Als sie die Männer in den Takelagen herumklettern und die Decks schrubben sah, dachte sie an ihre Seereisen mit Juan Montero zurück. Das ständige Knarren eines Schiffs auf hoher See, die unendlich weite Aussicht auf das glitzernde Wasser … Es war kein einfaches Leben gewesen, aber wie hatte sie das Gefühl der Freiheit und die Unergründlichkeit des Meeres genossen!
„Señora Montero?“, hörte sie jemanden neben sich sagen, und ihr Name riss sie aus ihren Tagträumen. Sie drehte sich um und sah Mendoza, Balthazars Quartiermeister, auf sich zueilen.
„Ah … Señor Mendoza, ja?“, erwiderte sie.
„Jawohl. Ich war gerade auf dem Weg zu Eurer Taverne. Wie geht es dem Kapitän?“
„Er hat Glück gehabt. Er schlief noch, als ich das Haus verließ, aber er hat kein Fieber. Meine Magd kümmert sich um ihn.“
Ein Lächeln glitt über Mendozas bedrücktes, raues Gesicht und schien durch seinen dicken Bart zu schimmern. „Das ist eine wundervolle Neuigkeit, Señora! Die Männer werden sehr erleichtert sein, das zu hören. Sie haben die ganze Nacht für den Kapitän gebetet.“
„Ach, wirklich?“, fragte Bianca. „Nun, ich kann mir vorstellen, dass sie Angst haben, ihre Löhne und Posten zu verlieren, wenn der Kapitän stirbt.“
Mendoza sah sie überrascht an. „Nein, darum geht es nicht, Señora. Die Löhne werden in jedem Fall ausbezahlt, und ein rechtschaffener Seemann bekommt in der Flotte von Velazquez immer
Weitere Kostenlose Bücher