Im wilden Meer der Leidenschaft
verschwinden würde. Sie hatte keine Zeit zu verlieren.
Als sie ihr Ohr an die Tür presste, konnte sie lediglich die Geräusche aus der Gasse und das Pochen ihres eigenen Herzschlags hören. Sie zitterte und war sich noch immer nicht sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, doch als sie die Augen schloss, hatte sie das Bild ihrer Mutter vor sich. Sie dachte daran, wie sie ihre Mutter leblos in ihrem eigenen Blut liegend gefunden hatte, inmitten der blutverschmierten Tarot–Karten und der zerbrochenen Gläser. Sah Ermano und Balthazar Grattiano in ihrer prächtigen Satinkleidung und mit Juwelen geschmückt vor sich, so selbstgefällig und blasiert, dass sie glaubten, alles drehe sich nur um ihre Bereicherung und ihr Vergnügen.
Sie schlug die Augen wieder auf und starrte auf die rauen Planken der Tür. Stirnrunzelnd dachte sie an Balthazar, nicht an den rücksichtslosen, blendend aussehenden Verführer, der er einst gewesen war, sondern an den Mann, dessen Wunde sie versorgt hatte. Nicht nur sein Körper war voller Narben, auch seine Seele war verwundet. Sie konnte den tiefen Schmerz in seinen undurchschaubaren grünen Augen erkennen, weil auch sie selbst verwundet war. Weil auch ihr das Leben hart mitgespielt hatte und sie voller Angst und Scham war, die sie mühsam zu bewältigen suchte.
Und der verwöhnte Balthazar war nun ein Seefahrer geworden, der sich hier in der rauen, erbarmungslosen neuen Welt durchgesetzt hatte, die nur von Skrupellosigkeit und dem Gesetz des Stärkeren regiert wurde. Seine Männer respektierten ihn. Und er hatte noch immer den gleichen Erfolg bei Frauen, wie sie aus Delores’ schwärmerischer Verehrung schließen konnte.
Oder aus ihrem eigenen Verhalten, wenn sie in seiner Nähe war. Ihre Wangen brannten, als sie sich an seine Küsse erinnerte, an seine rauen, leidenschaftlichen Berührungen. Ohne Zweifel – wie man mit Frauen umging, hatte er nicht verlernt. Und nachdem er die Herzen der Frauen in der alten Welt gewonnen hatte, wandte er nun seine Aufmerksamkeit den neu entdeckten Gebieten zu.
Selbst als sie noch ein unschuldiges junges Mädchen gewesen war, hatte Bianca sich unwiderstehlich von ihm angezogen gefühlt, von seinem umwerfenden Aussehen, seiner scharfsinnigen Intelligenz und seiner geheimnisvollen Intensität. Von der Traurigkeit, die ihn wie ein diskretes, verlockendes Parfüm umwehte. Und auch jetzt konnte sie sich ihm nicht entziehen, trotz allem, was vorgefallen war. Dennoch konnte sie die Vergangenheit nicht vergessen.
Nein, es war ihr nicht möglich zu vergessen, was die Grattianos ihr angetan hatten.
Sie konnte das Verbrechen an ihrer Mutter nicht ungesühnt lassen. Doch sie konnte auch keinen unschuldigen Mann töten. Das mochte eine Methode der Grattianos sein, aber nicht die ihre.
Bianca ballte die Fäuste und spürte, wie sich ihre Fingernägel in ihr Fleisch bohrten. Warum bloß war er hier aufgetaucht? Nach all diesen Jahren! Gerade jetzt, da sie endlich ein Stück weit ihren Seelenfrieden wiedergefunden hatte.
Doch hier war er nun, und sie musste sich ihm und der Vergangenheit stellen. Um dann ein für alle Mal einen Schlussstrich zu ziehen.
Langsam öffnete sie die Tür und achtete darauf, kein Geräusch zu machen. Auf dem Tisch leuchtete noch immer eine halb heruntergebrannte Kerze, die im Nachtwind flackerte. Ihr Schein tauchte die zerwühlten Bettlaken und den Mann, der darin schlief, in ein dämmriges goldenes Licht.
Er hatte die Arme im Schlaf weit ausgebreitet, als kämpfe er auch im Traum gegen seine unsichtbaren Dämonen. Sein gebräunter nackter Oberkörper hob sich von den weißen Decken und dem weißen Verband an seiner Schulter ab. Er lag völlig bewegungslos da, und sein Atem ging ruhig und gleichmäßig.
So schnell sie konnte, schnürte Bianca ihr Mieder und ihren Rock auf, bis sie nur noch in ihrem Unterkleid und ihren Strümpfen dastand. Sie wagte kaum zu atmen, als sie den kleinen, mörderisch scharfen Dolch aus dem Versteck in der Truhe nahm.
Sie umklammerte den flachen, abgenutzten Schaft, kletterte aufs Bett und setzte sich rittlings auf Balthazars sehnige Hüften. Sobald der kalte Stahl der Klinge seine Kehle berührte, schlug er die Augen auf. Im flackernden Kerzenlicht starrte er sie an, ohne sich zu bewegen, ohne Angst zu zeigen. Er war völlig regungslos.
Es war Bianca, die vor Unsicherheit zitterte. Sie zwang sich, ruhig und langsam zu atmen und den Dolch sicher in ihrer Hand zu halten.
„Wo ist dein
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