Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Winter der Löwen

Titel: Im Winter der Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
Vom Netzwerk:
wurde von den beiden Kindern betreten, die … Patriks Leiche ziemlich nahe gekommen sind, bevor nach einigen Minuten die Frau kam, die uns verständigt hat. Wir müssen also die Spuren, die die Kinder hinterlassen haben, von denen trennen, die der Tat zuzuordnen sind, um ein vollständiges Bild zu gewinnen.«
    »Ja«, sagte Sundström. »Ich danke dir dennoch, das ist ein Anfang.«
    Einige Zeit später löste sich die Versammlung auf. Sundström verteilte Aufgaben für den Rest des Tages. Joentaa rief von seinem Büro aus Salomon Hietalahti an, dessen Stimme weit entfernt zu sein schien, als er von Parametern sprach und von der Richtung des Wundkanals und von Widerständen, die Bekleidung, Haut und knöcherne Strukturen dem Stichwerkzeug entgegengebracht hatten.
    »Du weißt, dass wir niemals ganz exakt urteilen können. Aber ein Eindruck hat sich verfestigt: Es sieht nach … Wut aus«, sagte er.
    Joentaa wartete darauf, dass Hietalahti das näher erläutern würde, aber es kam nichts.
    »Was meinst du?«, fragte er.
    »Es sieht so aus, als habe ihn ein wütender Angreifer niedergestochen. Es sind ungezielte, fast über den ganzen Oberkörper verteilte Stiche. Einige davon oberflächlich, andere tief eindringend. Es wirkt, als sei der Antrieb … nicht Überlegung gewesen, sondern eben … Wut … verstehst du?«
    »Ja … ich danke dir, das kann uns weiterhelfen«, sagte Joentaa.
    »Meinst du?«
    »Ich … ich denke, ja«, sagte Joentaa.
    »Mir hilft es nicht weiter, weil ich mir keinen Menschen vorstellen kann … ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Und ich habe Patrik wirklich gekannt«, sagte Hietalahti.
    Joentaa wusste nicht, was er darauf hätte erwidern können. Er beendete das Gespräch und dachte über Patrik Laukkanen nach und über die Frage, wie er die Wut auf sich hatte ziehen können, von der Salomon gesprochen hatte. Patrik war nicht ausgewichen. Die Person, die ihm entgegengetreten war, hatte in ihm keinen Fluchtimpuls ausgelöst.
    Er sah über den Schreibtisch hinweg in das Gesicht von Tuomas Heinonen, der konzentriert auf den Bildschirm seines Computers starrte und von Zeit zu Zeit Flüche murmelte.
    »Tuomas?«
    »Ja … entschuldige … ich hatte gerade kurz … nachgeschaut …«
    Joentaa nickte.
    »Hat gerade angefangen. Noch keine Tore«, sagte Heinonen.
15
    »Ich gleite wie auf Schienen über den Schnee«, sagt sie.
    Sie lächelt entschuldigend, weil sie weiß, dass sie damit seine Frage nicht beantwortet. Er scheint darauf zu warten, dass sie ihre Aussage präzisiert.
    »Heute Nachmittag habe ich Rauna besucht«, sagt sie.
    Er nickt.
    »Es war schön«, sagt sie.
    »Es ist gut, wenn Sie sich gegenseitig Kraft geben können«, sagt er. »Aber es ist möglich, dass Rauna zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnt, Ihre Person mit dem Ereignis zu verknüpfen. Und dann würden Sie ihr vielleicht nicht mehr helfen können, sondern eher eine Belastung sein. Verstehen Sie?«
    »Rauna hat sich darüber gefreut, dass ich da war«, sagt sie.
    »Ich weiß. Ich möchte Ihnen nur vergegenwärtigen, dass Rauna noch lange brauchen wird, um das Ereignis zu verarbeiten, und dabei verschiedene Stadien durchlaufen wird.«
    Das Ereignis, denkt sie. Wie selbstverständlich ihm das über die Lippen geht. Sie mag ihn. Er ist klug und gleichzeitig unbeholfen. Sie mag diese merkwürdige Mischung, er erinnert sie manchmal an Ilmari. Sie sehen sich nicht ähnlich, aber das Alter passt in etwa, und auch Ilmari war klug und unbeholfen. Hätte auch Ilmari den Einsturz des Himmels als Ereignis bezeichnet? Vielleicht, unter den gegebenen Umständen.
    »Was bringt uns das?«, fragt sie.
    Er wartet.
    »Was bringt es, von einem Ereignis zu sprechen?«
    Er wartet eine Weile, dann sagt er: »Ich halte es für wichtig, eine Begrifflichkeit zu finden, die Distanz schafft. Sie benötigen Distanz, um … neu beginnen zu können.«
    »Glauben Sie das wirklich?«
    Er nickt.
    »Weil Sie es so gelernt haben?«
    Er schweigt eine Weile.
    »Was haben Sie gemeint, als Sie sagten, dass Sie wie auf Schienen gleiten?«, fragt er dann.
    »Es ist das, was ich am liebsten tun möchte. Auf Schienen über den Schnee gleiten und die Welt in Ordnung bringen«, sagt sie.
    Er wartet, aber sie weiß nicht, was sie ihm noch sagen könnte.
    »Verstehen Sie?«, fragt sie.
    Er nickt.
    Als sie in die Kälte hinaustritt, schneit es, und Ilmari und Veikko liegen noch immer unter dem Himmel begraben.
16
    Als Joentaa nach Hause kam, lag das Haus im Dunkel.

Weitere Kostenlose Bücher