Im Zeichen der Angst Roman
säße ich nicht in einer angenehm temperierten Luxuslimousine, sondern draußen in Eis und Schnee.
Wie lange war es her? Ich schaute auf die Uhr. Kurz nach eins. Seit fast zehn Stunden hatten sie meine Tochter in ihrer Gewalt. Zehn Stunden lang war sie Angst, Verlassenheit und Einsamkeit ausgesetzt. Wie konnte das jemand einem Kind antun?
Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und presste die Zähne aufeinander, um das Zittern zu bändigen.
Ich zwang meine Gedanken in eine andere Richtung.
Jemand hatte die Presse informiert. Wahrscheinlich arbeitete der Reporter im Krankenhaus für ein Provinzblatt, doch irgendwann würden meine liebreizenden Kollegen von der Boulevardpresse
aus Hamburg hinter mir her sein. Früher oder später würden sie entdecken, dass die ermordete Claire Silberstein meine Mutter war und dass man auch meine zweite Tochter entführt hatte. Wenn sie erst einmal diesen Knochen zwischen den Zähnen hatten, würden sie an ihm herumnagen, bis sie ans Mark gelangten. Dann würden sie alles wieder hervorholen und ihrer Leserschaft in auflagenträchtigen Schlagzeilen präsentieren. Sie würden die Flucht meiner Mutter 1989 thematisieren und den Krebstod meines Vaters. Sie würden weder vor Johannas noch Kais Tod Erbarmen haben. Sie würden fragen, weshalb ich Josey nicht genug geschützt hatte, und sie würden so lange herumwühlen, bis sie entdeckten, dass ich der Polizei aus dem Weg ging. Sie würden fragen, warum. Schließlich würden ihre Mutmaßungen, in welch dunkle Machenschaften ich, eine verurteilte Mörderin, diesmal verstrickt war, ihre reißerischen Schlagzeilen füllen. So tickten sie, und diese Logik war für mich und meine entführte Tochter gefährlich.
Was, wenn sie auf meine Verbindung zu David stießen? Was, wenn sie ihn in die Mangel nahmen? Ich konnte ihn vor mir sehen, verstrickt in ein wütendes Wortgefecht mit diesen Reportern, die ihm ihre Fragen entgegenschleuderten, eine provokanter als die andere. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er sich in Rage redete und ihnen genau jene Story lieferte, die sie brauchten. Natürlich würden sie ihn fragen, weshalb wir alles taten, um die Polizei nicht dabeizuhaben und weshalb wir einen so großen Bogen um die Presse machten, statt mit ihr zusammenzuarbeiten. Anstatt zu schweigen, wie es sinnvoll und klug wäre, würde er sich hinreißen lassen und auf die Wahrheit zurückgreifen: »Wir wollen die Polizei nicht dabeihaben, weil sie das erste Mal auch nicht verhindern konnte, dass Claras Tochter starb. Wir wollen nicht mit der Presse zusammenarbeiten, weil wir ihre unlauteren Methoden kennen, um an eine Story zu kommen.« Scheinheilig würden sie ihn fragen, welche Story er denn überhaupt meinte. Er würde sich in ihren Fallstricken
verfangen, bis sie ihn fragen würden, weshalb er sich für mich verantwortlich fühlte und weshalb er mich schützte und vor was überhaupt. Sie würden natürlich bohren und wissen wollen, weshalb ich diesen Schutz benötigte, in was ich da verwickelt war und vor allem, ob und was ich denn zu verbergen hätte, dass ein solcher Schutz nötig wäre. »Machen Sie sich nicht lächerlich«, würde er antworten, und sie würden auch hier spekulieren und der Wahrheit ganz nah kommen: dass der Mord an meiner Mutter, Johannas Tod und Joseys Entführung in einem Zusammenhang stünden.
Damit hätten sie exakt die Story, die sie brauchten. Sie würden Vermutungen anstellen, sie würden in meinem Umfeld schnüffeln. Sie würden das Unterste zuoberst kehren und den Entführern vielleicht auf eine Weise zu nahe kommen, von der wir alle nichts ahnten - weil wir einfach nichts wussten.
Es war lebenswichtig für Josey, dass David nicht mit der Presse sprach. Unter keinen Umständen. Doch ihn konnte ich morgen immer noch früh genug vor der Presse warnen. Am dringendsten musste ich mit Claus sprechen. Ich musste ihm die Exklusivrechte an meiner Geschichte anbieten. Anders hatten wir keine Chance, und selbst die war gering genug, denn letztlich konnte niemand verhindern, dass die Konkurrenz über die Entführung berichtete, und für eine Nachrichtensperre war es längst zu spät.
Aber vielleicht hatte der Reporter nichts weiter herausbekommen, dachte ich. Vielleicht wusste er gar nicht, wer ich war. Vielleicht hatte Groß ihn sich zur Brust genommen. Oder Mankiewisc.
Ich beruhigte mich ein wenig und knipste das Deckenlicht an. Ich nahm die Handtasche vom Beifahrersitz, klemmte sie mir zwischen die Knie und
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