Im Zeichen der Angst Roman
einen Tunnel aus dicken, weichen Flocken, den die Schweinwerfer vor mir in der Dunkelheit aufrissen. Weiße Begrenzungspfeiler ragten am Straßenrand wie Arme aus dem Schnee, ab und zu erfasste das gleißende Fernlicht den Umriss eines Baumes. Ich hatte das Gefühl, außerhalb von Zeit und Raum durch diese weiße Röhre zu fahren, in der sich jedes Geräusch verlor. Hier gab es nur mich, die Dunkelheit, den Schnee, die Straße - und meine tief sitzende Angst, vor deren Präsenz und Kraft ich mich mehr fürchtete als vor jedem Unfall.
Die Straßensperren waren kurz vor Mitternacht aufgehoben worden, hatte Groß mir noch im Hotel gesagt. Sie hatten meiner Meinung nach ohnehin keinen Sinn gemacht. Zum einen hatten die Entführer einen Vorsprung, und zum anderen bezweifelte ich, dass sie den direkten Weg über die Bundesstraße nach Norden genommen hatten, um dort auf die Hamburger Autobahn zu fahren, wie es die Polizei vermutete und ich es gerade tat.
Ich starrte nach draußen in den Schnee.
Was würde ich tun, um aus dieser Gegend zu verschwinden, einem ehemaligen Zonenrandgebiet, durchzogen von verschwiegenen Forstwegen und alten Kolonnenwegen, die an der ehemaligen Grenze zwischen Ost und West entlangführten?
Ich würde entlang dieser einstigen innerdeutschen Grenze über die alten Kolonnenwege fahren, dachte ich. Weit weg von
jeder Bundesstraße, weit weg von jedem Dorf und jedem kleinen Flecken würde ich mich mit Hilfe eines GPS-Geräts nach Norden bewegen. Vielleicht brauchte man eine halbe Stunde länger bis zur Autobahn, aber es war sicher.
Sie könnten jedoch auch in die entgegengesetzte Richtung nach Südosten und über Magdeburg auf die Berliner Autobahn nach Hamburg gefahren sein. Nein, dachte ich, das war zu umständlich und ein zu weiter Umweg.
Rechts tauchten ein paar Häuser aus dem Nichts auf, dann ging die Straße in eine lang gezogene Kurve über. Trotz des Allradantriebs und der Halogenscheinwerfer war das Fahren mühsam. Die Landschaft reduzierte sich auf diese nachtweiße Röhre, die den gewundenen Straßenverlauf nicht weiter als 50 Meter im Voraus anzeigte, und unter dem Schnee lagen vereiste Flächen. Um die Spur zu halten, fuhr ich äußerst konzentriert, und das war gut so.
Sobald meine Aufmerksamkeit nachließ, konnte ich es spüren: Dicht unter der Oberfläche lauerte der nächste Schwächeanfall und wartete nur auf einen unbedachten Moment, um seine Fangarme nach mir auszustrecken und mich erneut in ein finsteres Loch aus Angst und Verzweiflung zu ziehen. Das war das Letzte, was ich gebrauchen konnte.
Eine Ablenkung wäre gut, eine Verbindung zur Außenwelt, eine menschliche Stimme. Ich schaltete das Radio ein. Ausgerechnet »Walk On By«, sang Dionne Warwick mit einer zärtlichen, weichen Soulstimme, die mir die Tränen in die Augen trieb. Josey, dachte ich, und sah meine Tochter tanzend vor mir.
Wann war das gewesen? Vorige Woche? Vor zwei Wochen - oder in einem anderen Leben? Ich hatte an dem Abend das Radio eingeschaltet, während sie ihre Zähne geputzt hatte, und genau diesen uralten Song hatten sie gespielt. Weiße Zahncremereste klebten noch in Joseys Mundwinkeln, während sie in ihren roten Bibi-Blocksberg-Hausschuhen auf den Dielen unseres Korridors schließlich etwas zu tun versuchte, das sie
als Tanzen bezeichnete. Es war jedoch eher ein aufgedrehtes Herumrutschen, zu dem sie die Arme durch die Luft und den Kopf mit den langen roten Haaren von einer Schulter auf die andere warf.
Die Tränen behinderten meine Sicht. Ohne nachzudenken, trat ich die Bremse bis zum Anschlag durch. Die Räder schlitterten ein paar Meter über die Straße und wirbelten hinter dem Range Rover eine Schneewolke auf. Dann stand der Wagen mitten in der Nacht auf einer Bundesstraße, auf der striktes Halteverbot herrschte. Meine Hände umklammerten das Lenkrad, und ich starrte weinend aus dem Fenster. Schnee, nichts als Schnee. Vor mir, neben mir, hinter mir. Selbst die Schwärze der Nacht verbarg sich hinter diesen dicken, lautlos fallenden Flocken. Einen Moment lang legte ich die Stirn auf das kühlende Leder des Lenkrads. Ich kam mir vor wie die letzte Überlebende einer Katastrophe, die alles Leben ausgelöscht hatte.
Ich ertrug Dionne Warwick nicht und wechselte den Sender. Es erklang der vierte Satz von Vivaldis »Vier Jahreszeiten«. Passend zum musikalischen Kälteklirren überkam mich ein Zittern, das in den Händen begann, die Schultern hinauffuhr und meine Zähne klappern ließ, als
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