Im Zeichen der Angst Roman
wusste nichts über die letzten 20 Jahre im Leben dieser Frau. Und während ich wie aufgezogen in dem Kaffee rührte, war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich überhaupt etwas über sie wusste. Sie war meine Mutter, und seit Ende der 1950er Jahre hatte sie als Deutschlehrerin gearbeitet. Meistens war sie eine liebevolle Mutter, lustig, belesen und gescheit. Dennoch hatte sie eine unüberwindbare Mauer umgeben. Manchmal lag sie ganze Nachmittage in einem abgedunkelten Zimmer. Sie fühle sich unwohl und habe Kopfweh, hieß es, und ich dürfe sie nicht stören.
Ich lernte schnell, dass ich mich nicht an meine Mutter wandte, wenn ich Probleme hatte. Ich ging auch nicht zu meinem Vater, obwohl ich ihn über alles liebte und verehrte. Ich ging zu meinem Freund Claus. Waren die Probleme in unseren Augen dennoch unlösbar, dann gingen wir zu seiner Mutter, die Hausfrau war und uns zuerst einmal einen Kakao kochte. Dann saßen wir zu dritt am Küchentisch und konnten uns unsere Alltagskatastrophen von der Seele reden. Danach sah die Welt meistens sehr viel rosiger aus.
Meine Mutter hatte sich nicht gemeldet, als die Mauer gefallen war. Dennoch schien sie seitdem häufig in meiner Nähe und über jeden Schritt in meinem Leben informiert gewesen zu sein. Sie hatte sich in die Klinik geschlichen, als Johanna geboren worden war. Sie hatte dort Fotos von ihrer Enkelin gemacht. Sie war über die Entführung informiert, über meinen Prozess, über die Haftstrafe. Das belegten die Fotos. Dennoch hat sie nie Kontakt zu mir aufgenommen. Weder telefonisch noch schriftlich. Ich war ihr nicht einmal eine Beileidskarte zum Tod ihrer Enkelin wert gewesen.
Ich war selbst Mutter. Man muss schon sehr gefühlskalt sein oder außerordentlich unter Druck stehen, um sich nicht um die Tochter zu kümmern, wenn sie in Bedrängnis gerät. So viele Dinge waren in meinem Leben geschehen, und diese Frau war einfach nicht bei mir gewesen. Sie hat mich großgezogen und
bestimmt hat sie mich geliebt. Doch in diesem Augenblick war sie eine Fremde für mich.
»Immerhin werden die Abstände zwischen den Katastrophen in deinem Leben immer länger«, sagte Claus, legte zwei weiße DIN-A4-Umschläge auf den auf Hochglanz polierten Mahagonitisch und setzte sich mir gegenüber.
Ich hatte ihn angerufen und erzählt, was passiert war. Er hatte nicht lange gezögert und mir vorgeschlagen, den Tag frei zu nehmen und mich über Mittag in diesem Café zu treffen.
Ich verdrehte die Augen.
»Ich hab unseren Freund angerufen«, sagte Claus, als ich keine Antwort gab.
»Weshalb?« Ich wusste genau, wen er meinte.
»Weil du alle Hilfe brauchst, die du kriegen kannst.«
»Wieso sollte ich Hilfe brauchen?«
»Du bist nicht aus dem Schneider, wenn du das glaubst.«
»Sie haben mir aber geglaubt«, erwiderte ich.
»Ich hab Quellen, wie du weißt«, sagte Claus. »Sie ermitteln in alle Richtungen.«
»Das ist ja wohl immer so, wenn sie nichts haben.« Ich konnte eine abwehrende Schärfe in meiner Stimme nicht unterdrücken.
»Sie haben dich schon mal inhaftiert, obwohl du nichts getan hast.«
»Sie sind Menschen. Sie irren eben manchmal.«
»Hör auf mit diesem philanthropischen Schmarren. Sie stehen unter Druck. Sie brauchen eine Auf klärungsrate. Vor allem bei Mord. Du weißt das. Sie hätten dich vor 13 Jahren niemals verurteilen dürfen. Es war ein reiner Indizienprozess.«
»Das stimmt nicht. Sie hatten die Pistole, meine Pistole. Mit meinen Fingerabdrücken. Und eine Tasse mit meinem Lippenstift. Die Nachbarin hat mein Auto erkannt und mich. Ich habe nie geleugnet, dort gewesen zu sein.«
»Aber du hattest das Haus verlassen und du hast ihn nicht getötet.«
»Ich konnte es nicht beweisen und vielleicht …« Meine Stimme hing in der Luft.
»Willst du sagen, du hast ihn doch umgebracht?«
»Nein, meine Güte. Ich hatte kein Motiv, weil er es einfach nicht gewesen ist.«
»Worüber habt ihr euch unterhalten in dieser Stunde? Er muss dir doch damals etwas erzählt haben, das dir bewies, dass er nichts mit der Entführung zu tun hatte.«
»Das geht dich nichts an. Die Geschichte ist vorbei.«
Claus sah mich an und schüttelte heftig den Kopf, so dass ihm eine Strähne seines dichten dunklen Haares ins Gesicht fiel.
»Ich bin dein Freund. Ich habe immer respektiert, dass du nie darüber reden wolltest. Aber vielleicht tust du es langsam mal.«
Claus schaltete sein Lächeln ein. Es war dieses charmante, liebenswürdige und ein bisschen freche
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