Im Zeichen der Angst Roman
hatte, und auch nicht, dass Madeleine mich morgens angerufen und mir empfohlen hatte, mich ihm vorzustellen. Er habe an diesem Tag die Morgensprechstunde und sei von acht bis zehn Uhr für jeden ohne Voranmeldung zu erreichen. Es sei immer gut, den Dorfpfarrer zu kennen, hatte sie gesagt und ins Telefon gelacht wie über einen Witz.
»Meine Mutter ist doch nicht vor ihrer eigenen Putzfrau geflüchtet«, sagte ich.
Lydia von Weiden zuckte mit den Schultern. »Fragen Sie Lennys Mutter. Die wird Ihnen noch ganz andere Geschichten erzählen. Sie hat sich ein bisschen um Madeleine gekümmert, als ihre Eltern starben und sie mit Rebecca allein war. Doch das ging nicht lange gut. Als sie Madeleine bat, nicht mehr so oft zu kommen, bekam sie auf einmal anonyme Anrufe. Sogar eine tote Ratte lag vor ihrer Haustür. Selbst Madeleines Mann hielt es nicht mit ihr aus. Dieses ständige Klammern und Kontrollieren, wo er war, mit wem und wie lange.«
»Ich dachte, er hat sie verlassen, nachdem bei Rebecca Multiple Sklerose diagnostiziert worden war«, sagte ich, denn langsam hatte ich die Nase voll. »Er soll nicht der Vater gewesen sein.« Ich hoffte, sie würde mich nicht fragen, woher ich es wusste, und zu meinem Glück tat sie es auch nicht, sondern schaute nur pikiert drein.
»Sehen Sie«, sagte sie, »auch das ist so eine Merkwürdigkeit. Weshalb schweigt sie sich über Rebeccas Vater aus? Doch sicherlich nur, weil es ein verheirateter Mann war. Man kann doch an fünf Fingern abzählen, wie das passiert ist. Damals hat sie noch in der Gastwirtschaft ihrer Eltern mitgearbeitet. Irgendjemanden hat sie dann wohl mal zu dicht an sich herangelassen, weil sie immer auf der Suche nach Liebe und Zuwendung war, was dann unweigerlich ins Klammern überging. Und den hat sie ja auch nicht halten können. Dabei war sie damals blutjung und hübsch. »
»Wenn er verheiratet war oder …«, sagte ich und ließ den Satz unvollendet.
»Nein«, sagte sie bestimmt. »Alle meinen es erst einmal gut mit ihr, weil sie so zerbrechlich und schutzbedürftig wirkt. Doch davon darf man sich nicht beeindrucken lassen. Sie ist sehr kräftig und weiß genau, was sie will und wie sie es bekommt. Irgendwann erreicht jeder den Punkt, an dem er sich wünscht, er hätte sie nie kennen gelernt.«
»Wann kam Ihrer?« Ich sah an einem kurzen Aufflackern der Augen, dass die Frage sie überraschte.
»Nun«, begann sie und strich sich eine Strähne, die sich aus ihrem Haarknoten gelöst hatte, hinter das Ohr. »Die Kinder spielten früher zusammen. Tasso, Lenny, Christine, Madeleine und noch ein paar andere. Deshalb kenne ich sie schon so lange. Als sie damals schwanger und ohne Mann war, haben wir uns alle entsetzliche Sorgen um sie gemacht. Tasso bot ihr an, bei uns im Gutshaus ein paarmal in der Woche auszuhelfen, wenn sie in der Gaststätte frei hatte. Doch hätte ich geahnt, zu
was das führte …« Sie schüttelte den Kopf und setzte ein betrübtes Gesicht auf.
»Was passierte denn?«, hakte ich nach.
Lydia von Weiden schnitt eine angeekelte Grimasse.
»Sie fing an, sich hier als Hausherrin aufzuspielen, klammerte sich an meinen Mann, der damals noch lebte, und ließ ihm keine ruhige Minute. Statt zu putzen, was ich ihr auftrug, begann sie, meine Anweisungen zu ignorieren. Sie bedachte das Personal mit eigenen Wünschen und bestand sogar darauf, dass Hugo, unser damaliger Fahrer, sie mit unserem Wagen zum Arzt fuhr. In seiner Arbeitszeit! Das konnte man doch nicht durchgehen lassen. Wir hatten einen furchtbaren Streit. Ich meine, wir, eine Familie mit einem Stammbaum, der bis ins dreizehnte Jahrhundert zurückreicht, sollten uns den Wünschen einer adoptierten Gastwirtstochter unterwerfen. Nein, also ich bitte Sie. Wir haben Sie aus Mitleid beschäftigt - und dann so ein abscheuliches Benehmen!«
Ich wies sie nicht darauf hin, dass auch sie nur angeheiratet war. »Hat sie nicht eines der Häuser gekauft, die Sie verkaufen mussten?«
»Hat sie Ihnen das erzählt?« Ihre Stimme verriet, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte.
»Nein, ich habe es irgendwo anders gehört. Weshalb mussten Sie denn so viel Besitz verkaufen?«
»Steuern«, sagte sie und faltete die Hände auf dem Tisch. »Und Zinsen. Die fressen einen ja auf. Und kaum Unterstützung vom Staat, auch wenn es allenthalben propagiert wird. Wir mussten uns von ein paar Häusern trennen. Der Unterhalt fraß die Mieten auf. Als wir sie verkauften, bekamen wir praktisch nichts dafür. Doch
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