Im Zeichen der Angst Roman
entlangkommen sahen. Mich empfing eine verschlossene Tür.
Ich versuchte es mehrmals mit Klingeln, und als mir niemand öffnete, drückte ich beherzt die Türklinke und ging in ein Vestibül, das mir zunächst den Atem nahm. Roter Marmor von der Decke bis zum Fußboden, ein Lüster, der durch drei Etagen schwebte, Türen, die irgendwohin führten, und eine breite Treppe, die sich majestätisch in die Höhe schwang und deren Geländer sich aus einer mannshoch geschnitzten Männerskulptur am Fuß der Treppe herauswand. Diffuses Licht fiel durch ein buntes Bleiglasfenster, das bis in die zweite Etage hinaufreichte und Bauern bei der Ernte zeigte.
Erst als ich von rechts leise Stimmen hörte, bemerkte ich, dass die Tür einen Spalt breit offen stand. Es war eine Flügeltür, und als ich mich ihr näherte, konnte ich jedes Wort verstehen.
»Ich sehe immer noch nicht ein, warum wir sie nicht anstellen können«, sagte eine Männerstimme.
»Weil ich es dir sage«, antwortete eine Frauenstimme, die gereizt klang. »Sie betritt mein Haus nicht noch einmal.«
»Wen kümmert es, wenn sie für uns arbeitet?« Der Ton des Mannes klang besänftigend, auch wenn er ganz offensichtlich nicht bereit war, ihrer Anweisung zu folgen.
»Also«, sagte die Frau hörbar genervt. »Ich kann nicht den ganzen Nachmittag mit dir diskutieren. Die angebliche Tochter kommt jeden Moment, und ich habe nicht vor, dieses unerquickliche Gespräch weiterzuführen.«
Einer von beiden schien aufzustehen, denn ich hörte Stuhlbeine über den Boden schrammen.
Ich hielt den Atem an und erwartete, jeden Augenblick ertappt zu werden. Die Schritte, die dem Schrammen folgten, gingen jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Ich schaute kurz um mich und über mich, ob vielleicht ein Angestellter in der Nähe war. Dann schlich ich leise zur Eingangstür zurück, öffnete sie geräuschlos und zog sie hinter mir ebenso vorsichtig ins Schloss. Ich kam mir vor wie eine heimliche Lauscherin, und wenn ich meiner Mutter glauben konnte, war Lydia von Weiden alles andere als zimperlich, wenn ihr etwas gegen den Strich ging.
Ich nahm meine Kraft zusammen und pochte mit der Faust ein kurzes, doch deutlich vernehmbares Stakkato gegen die schwere Holztür.
»Meine Güte, was für eine Ungeduld. Ich komme ja schon«, hörte ich kurz darauf dieselbe weibliche Stimme.
Als sie die Tür öffnete und mir die Hand reichte, fühlte ich mich unbehaglich. Da stand er also vor mir, der eiskalte Engel von Horststätt. Meiner Mutter zufolge war sie Mitte achtzig, doch man sah es ihrem Körper in dem eisgrauen Schneiderkostüm nicht an. Überraschend groß und schlank, hielt sie den Kopf sehr gerade und die Schultern zurückgezogen wie eine Balletttänzerin. Ich setzte mein professionelles Lächeln auf, doch Lydia von Weiden schien mein Unbehagen zu spüren,
denn sie zeigte blitzartig etwas, das wie Zerknirschtheit auf mich wirkte.
»Ach, du meine Güte. Habe ich Sie erschreckt? Haben Sie geklingelt? Nun ja, die Klingel geht schon eine Weile nicht. Fühlen Sie sich etwa unwohl?«
Ihre Sätze prasselten auf mich ein, und was konnte ich anderes tun, als die Frage nach meinem Unwohlsein höflich zu verneinen.
»Doch, doch«, sagte sie. »Ich sehe es Ihnen an. Sie haben sich über den Schrecken einer alten Frau selbst erschrocken.«
An dem Lächeln, das ihr schmales Gesicht unter einem locker zusammengesteckten Haarknoten überzog, schien es nichts Gekünsteltes zu geben, doch ich blieb auf der Hut. Die Frau war Schauspielerin, auch wenn es ein Zeitalter her war. Sie zog mich ins Haus, hakte sich bei mir ein, als wären wir alte Bekannte, und führte mich durch die Halle, die ich bereits kannte.
»Ist es nicht wundervoll?«, fragte sie und zeigte auf den Marmor. »Ich hatte in diesem Haus ein bemerkenswertes Leben. Sehen Sie nur, dieser Kamin unter dem Spiegel.«
Ich hatte ihn das erste Mal nicht bemerkt und wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als sie schon weitersprach. »Sie sind Journalistin, sagten Sie mir am Telefon. Welch ein aufregender Beruf! Die Leute, die man dabei kennen lernt! Na ja. Da können wir hier natürlich nicht mithalten. Und Sie wollen ein Buch über die Gegend schreiben?«
Als ich sie am Tag zuvor angerufen hatte, um mich als Clara Silberstein vorzustellen, hatte ich ihr erzählt, ich würde im Auftrag eines Verlages ein Buch über alte Gutshäuser in Schleswig-Holstein schreiben und ich sei dafür in das Haus meiner verstorbenen Mutter gezogen.
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