Im Zeichen der Angst Roman
abzuschließen. Auch tagsüber, nicht nur nachts. Ich versprach, ich würde mit den anderen Hausbewohnern sprechen. Mankiewisc empfahl mir außerdem noch einmal, Josey anderswo unterzubringen. Weit weg. Ich schüttelte den Kopf, und er bestand nicht darauf. Er hatte meine Tochter erlebt. Er versprach mir, dass er dafür sorgen würde, dass jede Stunde ein Streifenwagen an meinem Haus vorbeifahren würde. Das sei besser als gar nichts.
Ich bat sie, mir ein aktuelles Foto meiner Mutter zu beschaffen. Groß versprach, mir eines zu schicken.
Dann waren sie fort.
9
Endlich begannen die Ferien, und ich war froh, dass ich meinen Urlaub auf unbestimmte Zeit verlängert hatte.
Bereits am frühen Morgen regnete es in Strömen, und ein bleischwerer Himmel hing über der Stadt wie eine Drohung für einen weiteren trüben Tag, dessen Zwielicht an den Nerven zehrt. Josey und ich trugen ausgewaschene Jeans zu bonbonfarbenen
Sweatshirts mit Micky Maus auf der Brust. Ich fand, der Tag konnte ein paar Farbtupfer gebrauchen.
Wir spielten Karten, und dann erlaubte ich ihr, »Mario Brother« auf dem Gameboy ihres Vaters zu spielen. Kai spielte leidenschaftlich gern, und als ich nach seinem Tod seine Wohnung entrümpelte, suchte ich nach etwas, das sie an ihren Vater erinnern konnte. Damals war sie noch zu klein, aber an dem Tag, an dem sie eingeschult wurde, gab ich ihr den Game Boy und sagte ihr, dass er ihrem Vater gehört hatte und er sich ganz bestimmt sehr freuen würde, wenn sie ihn jetzt statt seiner benutzte.
Sie war ganz aufgeregt, als ich ihr erklärte, wie er funktionierte, und sie wollte ihn gar nicht wieder hergeben. Wir vereinbarten, dass sie jeden Tag eine halbe Stunde spielen durfte, wenn sie ihre Aufgaben erledigt hatte. Seitdem hielten wir es so. Seit zwei Wochen war sie besser als ich und in Levels unterwegs, die ich noch nie gesehen hatte. Mein Mario gab spätestens im dritten Level seinen Geist auf. Ihrer sprang und hüpfte locker im sechsten herum. Sie war wie alle Kinder intuitiver, cleverer und reaktionsschneller als Erwachsene, und es blieb mir nichts anderes übrig, als das neidlos anzuerkennen.
Kurz vor dem Mittagessen telefonierte ich mit Patrizia. Ich fragte sie, ob Josey am Nachmittag zu ihnen kommen könnte.
Josey war ganz aus dem Häuschen, dass sie endlich wieder zu Melissa durfte, und wie immer, wenn sie aufgeregt war, plapperte sie ohne Punkt und Komma, während ich ihr einen durchsichtigen Regenmantel über ihren blauen Daunenparka zog und den Reißverschluss schloss.
Sie plapperte auch noch, als wir vor Patrizias Haustür standen und ich auf die Klingel drückte. Ich hatte nicht genau zugehört, wie Eltern das manchmal tun, wenn die Kinder wie aufgezogen reden. Offenbar aber hatte Sven Melissa zu seinem Geburtstag eingeladen und sie auch. Sie blickte ehrfürchtig zu mir hoch, als sie sagte: »Er ist nicht mehr böse auf mich,
weil ich ihn und Mellie umgeschubst habe. Er wohnt in einem Haus mit einem großen Park, und er hat zwei Zimmer ganz allein und eine Köchin wie Lena. Und es wird grünen Wackelpudding mit Streuseln geben. Und Bratwürstchen von einem Grill. Ja.«
Ein Regentropfen lief über ihre Wange. Eine feuchte, rote Haarsträhne hing aus der Kapuze heraus und fiel ihr über die Stirn. Sie schob sie zur Seite, mit einem ernsten Ausdruck im Gesicht. In dem Augenblick sah sie aus wie Kai, von dem sie die roten Haare und die grünen Augen geerbt hatte, und mich durchschoss ein überwältigendes Gefühl. Einfach so. Aus heiterem Himmel und ohne besonderen Grund.
Ich hatte meine erste Tochter verloren und meinen Mann. Ich hatte sechs Jahre in einem Gefängnis verbracht. Es war erst sechs Jahre her, dass mein Vater gestorben war, und vor zehn Tagen hatte ich meine Mutter ein zweites Mal verloren. Jedes Mal war ich zu Boden gegangen, jedes Mal war ich wieder aufgestanden und hatte weitergemacht. Doch als ich Josey in diesem Augenblick ansah, wie sie ihre Augen aufriss und versuchte, streng wie eine Erwachsene zu gucken, weil wir keine Köchin hatten, da wusste ich, dass es einen Verlust geben konnte, von dem ich mich nie wieder erholen würde.
Ich dachte an meinen Vater. Ich dachte daran, wie er gesagt hatte: »Such sie.« Und ich dachte daran, dass er mit gebrochenem Herzen gestorben war.
Ich würde nicht an gebrochenem Herzen sterben.
Ich sah auf meine Tochter hinunter.
»Ich werde mir ein Kochbuch kaufen«, sagte ich. »Ich werde mich bessern und häufiger kochen.«
Aus Joseys
Weitere Kostenlose Bücher