Im Zeichen der Angst Roman
ich zugleich bedauerte, dass sie nie erfahren hatte, dass ich selbst Krimis schrieb. Zu gern wüsste ich, was sie von meinen Büchern gehalten hätte.
Aus der zweiten oberen Schublade zog ich zwei in rubinrotes Leder gebundene Fotoalben.
Ich setzte mich in einen Sessel, öffnete das erste und blätterte es durch. Meine Mutter als Baby 1929, als Schulkind mit anderen Kindern 1936, als junges Mädchen 1943. Klassenfotos
mit Menschen, die ich nicht kannte. Fotos von Ausflügen mit Freunden, die mir nichts sagten. Fotos von ihrer Heirat 1953. Mein Vater und meine Mutter lachend bei ihrer kirchlichen Trauung. Meine Mutter strahlend während ihrer Schwangerschaft 1964, lachend mit einem Kinderwagen 1965. Meine Mutter und mein Vater im Urlaub 1967 ohne mich.
Unter jedem Foto standen die Jahreszahlen. Mehr nicht.
Ich schlug die Seite um und stutzte. Meine Mutter am Arm eines Mannes, den ich schon einmal gesehen hatte - in dem Medaillon, das ich in der Pathologie in den Händen gehalten hatte. »1946« stand unter dem Foto. Sie war 17 Jahre alt. Sie trug ein tailliertes Tweedkostüm, er einen doppelreihigen Anzug. Er war etwas älter, vielleicht Anfang zwanzig, und einen Kopf größer als sie, und sie strahlte ihn an, während er lächelnd zu ihr hinabsah.
Meine Mutter beim Tanzstundenabschlussball 1947 eng umschlungen mit demselben Mann. Es war selbst auf den Fotos unübersehbar: Sie war in diesen Fremden verliebt gewesen.
Das war in dem Alter natürlich nichts Besonderes. Doch für mich war es etwas Besonderes. Meine Eltern hatten mir erzählt, dass sie sich seit der Kindheit kannten, dass sie sich im letzten Jahr in der Schule ineinander verliebt hatten und es niemanden sonst in ihrem oder seinem Leben gegeben hatte. Sie war seine erste und einzige Liebe und er ihre. Doch offensichtlich stimmte das nicht.
1951 war sie auf einer Beerdigung. Die anderen Menschen auf dem Foto kannte ich nicht. Meine Mutter trug eine Rose in der Hand. Eine rote Rose. Das konnte man selbst auf dem Schwarzweißfoto erkennen. Jemand, der sich gerade abwandte, stand neben ihr und hielt ihren Ellenbogen. Sie schaute so, wie sie auch früher geschaut hatte, wenn sie kurz davor stand zu weinen.
Auf dem zweiten Foto der Beerdigung sah ich meine Mutter, wie sie weinend und verzweifelt von zwei Männern gestützt und weggeführt wurde.
Das dritte Foto zeigte einen Grabstein. »Johann Paulsen. Geboren 1. Dezember 1924, gestorben 3. April 1951. Geliebter Sohn.« In den Grabstein war ein Engel graviert.
Das war alles.
Ich warf einen letzten Blick auf den Grabstein und legte das Album zur Seite. Dann dämmerte etwas aus meinem Gedächtnis herauf.
Ich kannte diesen Engel, und ich kannte auch das Grab. Als kleines Mädchen hatte meine Mutter es mit mir regelmäßig besucht, wenn sie zum Grab ihrer Großeltern gegangen war. Jedes Mal steckte sie vor diesem Engel frische Blumen in eine braune Vase und betete, er möge den Toten beschützen.
Langsam, doch klar stieg eine Szene in mir hoch.
Ich sah meinen Vater, wie er zwischen den Grabreihen mit einer Hand sein schwarzes Fahrrad auf uns zuschob. Mit der anderen winkte er mir zu. Er lächelte. Meine Mutter hielt meine Hand, und ich spürte noch heute, wie sie zu einer Säule erstarrte. Sie atmete kaum, sondern sah meinem Vater mit unbewegtem Gesicht entgegen. Er hob mich hoch und küsste erst mich und dann sie auf den Mund, wie er es immer tat, wenn er nach Hause kam. Die Hand meiner Mutter umklammerte meine wie eine kalte, eiserne Faust. Er bat sie, sein Rad zu halten, und meine Mutter ließ mich endlich los und hielt das Rad mit beiden Händen fest. Mein Vater ging zum Grabstein, nahm die Blumen aus der Vase und reichte sie ihr.
»Lass die Toten endlich gehen«, sagte er.
Dann schwang er sich aufs Rad und fuhr zwischen den Grabreihen davon. Meine Mutter warf die Blumen weg und weinte den ganzen Weg nach Hause. Wir gingen nie wieder zu diesem Grab.
Ich sah mir noch einmal das Foto von meiner Mutter und Johann Paulsen an, als sie siebzehn war. Sie hatte ihn geliebt, und
sie hatte ihn immer noch geliebt, als sie mich 13 Jahre nach seinem Tod zur Welt gebracht hatte. Sie hatte nicht aufgehört, ihn zu lieben.
Und sie hatte meinen Vater geliebt.
Ich nahm das zweite Album. Es enthielt die Fotos, die ich bereits kannte, und viele mehr von Kai und mir, von unseren Kindern, von meinem Prozess. Alle Bilder dokumentierten, was ich bereits geahnt hatte: Meine Mutter war die ganzen Jahre über an
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