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Im Zeichen der Angst Roman

Titel: Im Zeichen der Angst Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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mir noch einmal das Album mit Ihren Fotos.« Er stellte den Milchkaffee vor mich hin.
    Ich öffnete das Album, und er blätterte schnell vor bis zu den letzten Fotos von mir.
    »Sie hat immer zu mir gesagt, ich sei jetzt so alt wie ihre tote Enkelin.«
    »Sie wäre jetzt neunzehn«, sagte ich.
    »Ich weiß.«, sagte er und legte seine jungenhafte Stirn in Falten. »Es tut mir sehr leid für Sie und Ihre Familie.«
    »Danke«, sagte ich und musterte ihn aufmerksam.

    »Sie sind doch Ihre Tochter, oder?«, fragte er mich noch einmal, und ich nickte und wies auf das letzte Foto, das sie von mir gemacht hatte. Es war nur ein paar Wochen alt. Es zeigte mich und Josey beim Verlassen der Schule. Josey trug ihre große Schultüte und sah gerade lachend zu mir hoch.
    »Es ist nur so«, sagte er und kratzte sich die Stirn. Dann beugte er sich zu mir. »Ich soll Ihnen was geben, hat sie gesagt.«
    »Mir?«, fragte ich überrascht, und er nickte, wobei sich unsere Nasen fast berührten, so dicht hatte er sich zu mir gebeugt.
    »Sie hat gesagt, sie sei ja schon älter, und vielleicht passiere ihr etwas. Und dann will sie nicht, dass irgendjemand etwas bekommt, das Ihnen gehört.«
    »Und was sollen Sie mir geben?« Ich konnte eine nervöse Unruhe in meiner Stimme nicht unterdrücken.
    »Warten Sie einen Moment, bitte.«
    Er kam hinter dem Tresen vor, ging durchs Restaurant und verschwand hinter einer Schwingtür, die in die Küche führte. Die Tür schwang noch ein paarmal hin und her, und ich vernahm das leise Klappern von Geschirr.
    Als er zurückkam, pfiff er leise vor sich hin. Etwas wölbte seine bodenlange weinrote Schürze.
    »Sie ist ermordet worden, nicht wahr?«, fragte er.
    Ich nickte. »Aber es gibt bislang keinen Verdächtigen.«
    Er schaute sich um. Dann zog er einen wattierten, gelben Briefumschlag im DIN-A5-Format unter der Schürze hervor, steckte ihn in das offene Album und klappte es zu.
    »Vielleicht war sie eine Spionin.«
    Ich lachte für mich selbst überraschend laut auf.
    »Bestimmt nicht.«
    Sein Gesicht überzog ein Anflug von Enttäuschung.
    »Sie hat mir gesagt, ich soll diesen Umschlag nur ihrer Tochter geben. Niemand anderem.«
    Meine Hand langte zu dem Album. Seine Hand legte sich auf meine. Sie war warm und kräftig.

    »Schauen Sie es sich zu Hause an«, sagte er.
    Ich zog meine Hand unter seiner fort.
    »Was wissen Sie von meiner Mutter?«, fragte ich.
    Er war jung, viel zu jung für die Geheimnisse einer alten Frau. Aber wer weiß. Vielleicht hatte sie ihn ja wirklich in ihr Herz geschlossen, weil er so alt war, wie Johanna jetzt gewesen wäre. Vielleicht war sie auch einfach nur einsam gewesen und dankbar, ab und zu mit jemandem plaudern zu können.
    »Ich mochte sie«, sagte er. »Sie konnte sehr komisch sein. Sie hatte einen wirklich guten Humor. Nur in den letzten zwei Wochen war sie irgendwie anders. Sie sagte immer, sie sei müde, wenn ich sie fragte. Sie sei eben eine alte Frau. Aber ich glaube, es war etwas anderes. Sie war nervös. Man konnte es sehen, wenn sie glaubte, niemand beobachtete sie. Dann pulte sie an den Servietten, oder sie nahm sie auseinander und legte sie sorgfältig wieder zusammen. Und einmal sah sie so aus, als würde sie gleich weinen. Sie saß da hinten. Ich hab mich weggedreht. Sie dachte, ich könnte sie nicht sehen. Aber ich habe sie hier im Spiegel über der Bar gesehen. Ich hab Gläser poliert, und sie hat dort drüben am Fenster gesessen. Und ich glaube, sie hat geweint.«
    Er nickte, mehr zu sich selbst als zu mir.
    »Wissen Sie eigentlich, was in dem Umschlag ist?«
    »Ja«, sagte er, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. »Es ist ihr Hausschlüssel. Sie hatte draußen in Horststätt ein Haus.«
    Ich stöhnte auf. Horststätt, das konnte nicht sein. Ich stützte meinen Kopf in die Hand. Horststätt lag eineinhalb Kilometer von dem Wasserturm entfernt, in dem Johanna die letzten Tage ihres Lebens verbracht hatte.
    »Ist Ihnen nicht gut?«, hörte ich seine Stimme an meinem Ohr.
    Ich schaute auf. »Geben Sie mir einen Cognac«, sagte ich, und er schenkte mir einen ein.
    »Ich war mal mit ihr da« sagte er. »Sie hatte ja hier kein Auto.
Ein schönes Haus. Mit allem, was man so braucht. Sogar mit einem Fischteich draußen im Garten.«
    »Sie ist mit Ihnen dahin gefahren?«
    Meine Stimme klang aggressiver, als ich es meinte. Ich kippte die Hälfte des Cognacs in mich hinein, als würde ich das jeden Tag tun.
    Der Junge sah mich irritiert an. »Sie hat

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