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Im Zeichen der Angst Roman

Titel: Im Zeichen der Angst Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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Entführer würden bereuen und die Sühne für den Tod meiner Tochter auf sich nehmen. Ich jedoch, die große Reporterin, ich hätte es besser wissen müssen. Die wenigsten Menschen sind bereit, sich dem zu stellen, was sie angerichtet haben.
    Ich nahm noch einmal die Alben meiner Mutter und blätterte sie durch.
    Wir hatten beide etwas Unersetzliches verloren: Sie die erste große Liebe ihres Lebens und ich meine erste Tochter. Wir hätten uns in unserer Trauer nah sein können. Doch sie hat es nicht gewollt.
    Ich verstand es nicht. Es war mir unbegreiflich.
    Ich blätterte durch die Seiten »meines« Albums.
    Meine Mutter hatte Fotos von uns allen gemacht, und als ich die Seiten umschlug, wurde mir noch einmal bewusst, wie sehr sich meine beiden Töchter ähnelten, nur dass Johanna nicht Kais grüne, sondern meine graublauen Augen geerbt hatte.
    Und dann tat ich etwas, das ich seit unendlich vielen Jahren nicht mehr getan hatte. Ich erlaubte meiner Tochter Johanna, wieder in mein Leben zu treten. Meine sorgsam entworfenen Universen hatten sich ohnehin längst aufgelöst, durchdrangen einander und ließen sich nicht mehr trennen.
    Ich ging an den Wandsafe, der hinter einer Werner-Tübke-Radierung hing, und holte das rosafarbene Fotoalbum von Johanna hervor. Auf der ersten Seite klebte ein durchsichtiger Plastikbeutel mit den ersten Haaren, die ich ihr abgeschnitten hatte. Es war eine dünne Strähne feinen, rötlichen Babyhaares.
Sie war ein Dreivierteljahr alt gewesen. Ich nahm die Haare heraus und schnupperte an ihnen, als wollte ich eine Spur aufnehmen. Doch da war nichts. Dabei hatte sie so süß gerochen, nach Babypuder, warmer Haut, Milch und Geborgenheit.
    Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, wie ich ihr die Strähne abgeschnitten hatte. Fassungslos stellte ich fest, dass es kein Bild in mir gab. Ich konzentrierte mich. Ich erwischte blitzartig ein Gesichtchen mit grauen Augen, das lachte und ebenso schnell verschwand, wie es aufgetaucht war.
    Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sich angefühlt hatte, wenn ich sie badete, wickelte, küsste. Ich fühlte sie nicht und ich sah sie auch nicht. Ich sah Josephine mit ihren grünen Augen, und es kam mir vor wie ein Verrat. Ich versuchte es mit Johannas Taufe, ihrem ersten Kindergeburtstag, mit dem ersten Weihnachtsfest.
    Ich blätterte weiter. Ich sah Johanna auf den Fotos, doch ich konnte sie nicht mehr spüren, empfinden, riechen, nicht mehr vor meinem inneren Auge sehen. Es kam mir vor, als hätte die Zeit mein kleines Mädchen in meinem Inneren ausgelöscht.
    Alles, was ich von ihr sah, war dieses weiße, verzerrte Gesicht mit den schreckensweit geöffneten Augen und dem offenen Mund, der wie eine Wunde in ihrem Gesicht klaffte. Ich sah sie tot. Ich spürte die Kälte ihrer Haut auf meiner Hand, als ich ihr Gesicht gestreichelt hatte. Ich spürte die eiskalte Feuchtigkeit des Parkas unter den Fingern, als ich im Stadtpark neben ihrer Leiche gekniet hatte. Ich spürte, wie die Feuchtigkeit an meinen Knien durch die Hose drang - und ich spürte noch immer Renners Hände an meinem Oberarm, als er mich wegzog. Doch ich spürte meine Tochter nicht mehr, wie sie sich als Baby an mich kuschelte, ihre Milch trank und glücklich gluckste, wenn sie die Brustwarze in ihrem Mund hatte. Ich weiß, dass sie das alles getan hat - und es ist weg.
    Ich nahm ein Foto von Johanna und Kai aus dem Album. Ich nahm eines von meiner Mutter aus dem anderen Album. Ich
legte ein Foto von meinem Vater dazu und das Foto mit dem Grabstein von Johann Paulsen.
    Vor mir lagen fünf Menschen, die nicht mehr lebten. Jeder von ihnen hatte eine Geschichte. Jede dieser Geschichten hatte zu viele lose Enden, und es war an der Zeit, diese Enden zu entwirren.
    Wer, was, wo, wie und warum.
    Ich würde diese fünf Fragen lösen. Für jeden einzelnen von ihnen. Ich war Reporterin. Ich wusste, wie man recherchierte. Ich beherrschte das Handwerk. Ich hatte es beim »Hamburger Blatt« von der Pike auf gelernt.

12
    »Man geht immer an den Ausgangspunkt zurück«, hatte Mankiewisc vor einiger Zeit zu mir gesagt. Das galt für Reportagen ebenso wie für Mordfälle.
    Wenn ich an den Ausgangspunkt zurückwollte, dann musste ich als Erstes nach Horststätt und als Zweites nach Solthaven. So deprimierend und traurig der Anlass auch war, traf es sich doch gut, dass die Urne mit der Asche meiner Mutter in zwei Tagen beigesetzt wurde. Ich hatte ein Zimmer im

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