Im Zeichen der Angst Roman
»Mensch ärgere dich nicht« gespielt. Zweimal hatte er gewonnen, dann Mellie und schließlich sie.
Als wir zu Hause ankamen, knallte ich die Haustür hinter mir so laut zu, dass Josey zusammenzuckte und das Geräusch selbst in meinen Ohren widerhallte wie ein Schuss. In der ersten Etage öffnete sich die Tür. Elizabeth Mayer, ehemalige Assistentin eines Geschäftsführers, seit drei Jahren im Ruhestand
und mit jedem Jahr etwa zehn Kilogramm reines Fett mehr auf dem einst schlanken Körper, steckte den Kopf über das Treppengeländer.
»Alles in Ordnung?«, rief sie fragend herunter. Ich sah nach oben und entschuldigte mich, die Tür sei mir aus der Hand gefallen.
»Stimmt doch gar nicht«, flüsterte Josey. »Ich hab es genau gesehen.«
»Pst«, machte ich, drehte mich zu ihr und legte den Finger auf den Mund.
Wir hörten, wie über uns die Tür zuging.
»Man soll nicht lügen. Dann bekommt man eine lange Nase und kurze Beine«, sagte Josey ernst.
Mir war alles andere als zum Lachen, doch unwillkürlich musste ich lächeln, und dann prustete sie los.
Ich drehte den Schlüssel im Schloss herum, und wir stiegen die vier Treppen nach oben.
Mein Haus war ein so genannter Lückenbau. Wodurch die Lücke vor mehr als einem Jahrhundert entstanden war, konnte mir nicht einmal die Maklerin erklären, als Kai und ich die Wohnung vor zwanzig Jahren kauften. Dieser Lückenbau hatte jedenfalls zur Folge, dass das Haus auf jeder Etage nur eine etwa 110 Quadratmeter große Wohnung mit vier Zimmern besaß und für den Einbau eines Fahrstuhls nicht genügend Platz vorhanden war. Das jedoch sorgte dafür, dass der Quadratmeterpreis trotz der hervorragenden Lage im Rahmen geblieben war und den explodierenden Wohnungspreisen bis heute erheblich hinterherhinkte. Nur deshalb hatten Kai und ich uns diese Wohnung damals leisten können. Kai hatte von seinen Eltern zur Hochzeit 30 000 Mark bekommen, und ich ebenfalls. Das war der Grundstock unseres Kaufes gewesen. Den Rest hatten wir über einen Kredit finanziert, den ich allerdings längst abgelöst hatte.
Um sieben Uhr lag Josey im Bett und schlief, nachdem wir eine Pizza gegessen hatten und ich ihr das dritte Kapitel von »Die Abenteuer des Tom Sawyer« vorgelesen hatte. Tom Sawyer war momentan ihr großer Held. Davor war es »Der gestiefelte Kater« gewesen. Sie liebte eigensinnige Helden, die aufmüpfig waren und nicht immer das taten, was man von ihnen erwartete. Ich hatte ihr das Buch zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt und las es ihr nun schon zum zweiten Mal vor.
Ich setzte mich in mein Arbeitszimmer an den Schreibtisch, zog den Umschlag aus dem Album und riss ihn ungeduldig auf. Ich hatte auf einen Brief gehofft, auf eine Erklärung, auf irgendetwas. Doch da war nichts.
Ich schüttelte den Umschlag, und ein Schlüssel mit einem Anhänger fiel auf den Schreibtisch. Auf dem Anhänger stand in der Schrift meiner Mutter »Hügelweg 12, Horststätt«.
Es gab kein Entkommen. Jetzt nicht mehr. Angst kroch durch meinen Körper, und Hilflosigkeit drohte, meinen Verstand lahmzulegen. Einen Moment lang sehnte ich mich nach der inneren Taubheit, die einem Alkohol und Schlaftabletten schenkten. Doch ich hatte weder das eine noch das andere da.
Ich kannte Horststätt. Bruchsahl hatte in dem Ort gewohnt, der nur anderthalb Kilometer von dem Wasserturm entfernt lag, in dem Johanna gestorben war. Ich habe wohl eine knappe halbe Stunde in diesem Wasserturm gesessen, nachdem Dr. Bruchsahl mir an jenem Nachmittag erzählt hatte, dass Johanna dort gewesen war. Ich fand ihre Mütze und ihren Schulranzen. Als ich den Turm verließ, ließ ich sie liegen.
Jemand hatte Dr. Bruchsahl angerufen, als meine Tochter ihren Asthmaanfall hatte. Als er zu ihr kam, war es zu spät. Er konnte ihr nicht mehr helfen, und sie starb in seinen Armen. Er sagte, er hätte sofort einen Rettungshubschrauber rufen müssen. Sofort, aber als der Anruf kam, hatte er die Situation verkannt.
Er wollte mir nicht sagen, wer ihn angerufen hatte. Aber
er hatte mir versprochen, dafür zu sorgen, dass sich die Leute stellten. Ich hatte ihm prophezeit, dass das ein Hirngespinst ist. Er hatte mich um einen Versuch und 24 Stunden Zeit gebeten. Die hatte ich ihm gegeben. Danach würde er der Polizei und mir die Namen nennen. Doch diese Leute hatten ihn getötet, und manchmal denke ich, auch ich habe ihn auf dem Gewissen. Dr. Bruchsahl nämlich war ein zutiefst überzeugter Philanthrop. Er glaubte wirklich, die
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